Die ›literarischen‹ Memoiren einer tauben Frau



Die Beziehungen von tauben Personen zum Begriff ›Literatur‹ – Ein Plädoyer für bilingualen Unterricht und einen mehrsprachigen Literaturbetrieb

Schrift Essay von Liona Paulus

Es war das Jahr 1997. Eine große Landeshauptstadt. Eine Realschule für Hörgeschädigte. Im Klassenzimmer eine 8. Klasse, Deutsch-Unterricht, das Thema des Tages: das Gedicht Im Nebel von Hermann Hesse. „Nun, da der Nebel fällt, ist keiner mehr sichtbar“, rezitierte eine 15-jährige mittelgradig schwerhörige Schülerin mit schönen langen Haaren. Sie stand steif vor der Klasse und starrte an die Decke, während sie dieses Gedicht aufsagte. Als sie das Gedicht fehlerfrei mit „Kein Mensch kennt den andern, jeder ist allein“ beendete, kam tosender Applaus von der Deutschlehrerin, „bravo, das war sehr gut. Dafür bekommst du eine Eins mit Sternchen.“ Aber die Klasse blieb still. Ich ebenso. Ich konnte der Mitschülerin das Gedicht nicht von den Lippen ablesen, weil ich kurz unaufmerksam war und daher den Anschluss verlor, obwohl ich es bereits auf dem Papier kannte. Ihre starre Haltung gab mir keine Hinweise darauf, welche Strophe sie gerade vortrug. 

„So, die Nächste ist Liona.“ Ich lief rot an und wurde nervös, weil ich ungern etwas, was ich nicht verstehe, vor der Klasse sprechen wollte, mit meiner etwas undeutlichen und monotonen Aussprache (die normal ist, weil ich taub bin). Soweit ich die Lehrerin verstanden hatte, war die Hausaufgabe gewesen, innerhalb von einer Woche eben dieses Gedicht von Hermann Hesse fehlerfrei auswendig aufsagen zu können. Ach, das war eine relativ leichte Übung für mich und ich lernte die Strophen auswendig. So stand ich nun vor zweiundzwanzig Augenpaaren und rezitierte dieses Gedicht. Als ich fertig war, war ich unheimlich stolz auf mich, dass ich es fehlerfrei und ohne Stottern aufsagen konnte. „Nun, das war okay, dafür bekommst du eine Drei“, sagte die Lehrerin verdrossen. Eine Drei? Wie bitte? Wo lag denn der Fehler für eine solch ‚schlechte’ Note? Ich hatte bisher immer gute Noten gehabt. Was hatte ich denn diesmal falsch gemacht? Ich hatte doch alles richtig gemacht, genauso wie meine Vorgängerin, alles richtig gesagt! Für mich brach eine Welt zusammen. Am Ende der Stunde ging ich zu der Lehrerin und sprach sie darauf an, warum ich eine so schlechte Note bekommen habe. Sie antwortete ganz lapidar: „Deine Sprachmelodie und dein Rhythmus waren grottenschlecht“, und verließ das Klassenzimmer ohne weitere Kommentare. 

Hä? Was war das? Sprachmelodie? Und was hatte Rhythmus damit zu tun? Ich hatte zwölf Jahre meines Lebens sehr viel Zeit und Energie in Lautspracherziehung, korrekte Aussprache und das Aneignen von Vokabeln investiert und wurde dann mit so einer Lappalie namens „Sprachmelodie“ einfach heruntergezogen! Das war ungerecht! Ich fing zu jenem Zeitpunkt langsam an, zu begreifen, dass es über den üblichen Lautsprach-Erwerb und -gebrauch hinaus etwas Höheres gibt, was sich mir entzog. Ich wurde wütend, weil mir das bisher keiner gesagt und beigebracht hatte. Ich ging hinaus in die Pause und fragte meine Mitschüler*innen in einer Variante der DGS, was sie darunter verstanden. Keiner konnte mir was sagen. Ich blieb also mit dem Problem und der ‚schlechten’ Note allein. 

Diese persönliche Anekdote zeigt sehr deutlich, wie es um die Literaturkenntnisse der tauben und schwerhörigen Menschen bestellt ist und wie der Umgang mit Literatur in Gehörlosen- und Schwerhörigenschulen gehandhabt wird. Literatur ist für uns Taube vor allem  ein Begriff, der aus der deutschen Sprache kommt, das Deutsche repräsentiert und daher eher etwas Unangenehmes ist. Unangenehm, weil man nichts versteht und den Sinn dahinter nicht begreifen kann. Der Deutschunterricht, oftmals auch verbunden mit anstrengendem Artikulationsunterricht, ist mit einem negativen Image behaftet. Unsere Deutschlehrer*innen hatten die vom Staat verordnete Aufgabe, uns tauben Kindern und Jugendlichen ein Literaturverständnis in Lautsprache beizubringen, und so gut wie nie in Gebärdensprache, geschweige denn eine kontrastive Gegenüberstellung in DGS. Literatur ist zudem für uns oft mit hochgeistigen Büchern und Schriftsprache verknüpft, die man kaum versteht. Eine Gebärdensprach-Literatur war damals für uns Jugendliche absolut unvorstellbar, etwas, das gar nicht existieren kann, weil Gebärdensprachen ja keine Schrifttradition hätten. Daher bestand die Assoziation ‚Literatur’ immer mit der deutschen Sprache. Sobald das Wort ‚Literatur’ im Unterrichtsplan oder sonst wo auftauchte, beschlich uns taube Schüler immer ein Gefühl von Lustlosigkeit und Desinteresse. Text-, Sprach-, Stilmittel- oder Gedichtanalysen waren etwas Unzugängliches, also, etwas was den Hörenden gehört und uns nicht betrifft. Daher haben wir das Ganze einfach als auswendig gelerntes Programm im Unterricht eingeprägt und in Prüfungen automatisch abspulen lassen. Oft habe ich mich auch gefragt, was denn der Sinn von solchen Analysen sei, vor allem außerhalb der Gehörlosenschule. Man wird doch eh nur Zahntechniker*in oder Schreiner*in, was nützen da einem die Gedichte, Allegorien, Klimax und Schänke?

Ich wechselte auf ein Regelgymnasium und da wurde dies weitaus noch schlimmer. Selbst in den Fächern Englisch und Latein musste man ihre Literatur und deren Analyse über sich ergehen lassen. Ich schaltete dann meist auf Automatismus um, anders konnte ich das nicht überleben. Im Fach Deutsch ging es dann mehr in die Tiefe mit der Literaturanalyse. Da tauchten plötzlich schwer aussprechbare und mir bis dato völlig unbekannte Wörter wie Trochäus, Daktylus und Anapäst auf (obwohl ich gerne Bücher lese und nachweisbar einen guten Wortschatz habe). Das hatte alles etwas mit Silben zu tun, betonte und nicht-betonte. Das Konzept einer betonten Silbe war für mich zu dieser Zeit schwierig zu begreifen, denn betonte Silben kann man gar nicht von den Lippen ablesen und ich erkenne sonst keine weiteren Signale in der Mimik oder Körpersprache für eine Betonung. Ich versuchte mehrmals mit meinen eigenen Gebärden, mir dies zu erklären oder fragte taube Mitschüler*innen und Freunde, ob sie mir das begreiflich machen können. Nie kam eine Antwort, die befriedigend war, weil sie das selbst nicht kannten oder nicht begriffen. Wie denn auch? Die meisten tauben Menschen besuchen kein Gymnasium bzw. sind keine großen Literatur-Fans. Das war immer ein Teil der hörenden Kultur, das uns nur am Rande betrifft, hauptsächlich in der Schule. Daher gab und gibt es für die ganzen Stilmittel und Metren-Fachbegriffe keine DGS-Gebärden, weil man dafür keine Verwendung findet und sie deshalb auch nicht entwickeln braucht. 

Apropos, zu jenem Zeitpunkt fing ich ganz ‚leise’ an zu verstehen, was es mit Sprachmelodie und Sprachrhythmus auf sich hat und weshalb ich womöglich bei der Im-Nebel-Rezitation ‚scheiterte’. Aber es hat in meinem Köpfchen trotzdem nicht so ‚laut’ geklingelt wie manch meiner Lehrer*innen sich das gewünscht hätte. Weil ich mich damit nicht mehr beschäftigten wollte, ganz nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn. 

Nach dem Abitur Mitte der Nuller Jahre fing ich an mich stärker mit der DGS auseinanderzusetzen. Denn durch den Einfluss der Gehörlosenschule und der Regelschule mit integrativem Modellcharakter vernachlässigte ich meine Erstsprache sehr. Das fand ganz schleichend statt, denn je länger ich die Schule besuchte, desto weniger DGS-Input hatte ich. Im Laufe der Jahre blieben nämlich immer weniger gebärdensprachkompetente Schüler*innen übrig, so dass ich kaum mit ihnen in unserer bevorzugten Sprache plaudern konnte. Traurig, aber wahr. Nachdem ich von der Schule abgegangen war, konnte ich mich in meiner Freizeit wieder vermehrt auf taube Freunde und Gebärdensprach-Events fokussieren. 

Ich fing parallel zu meinem geisteswissenschaftlichen Studium an einer Uni in einer mittelgroßen Stadt an, unter der Anleitung eines geprüften DGS-Dozenten unsere Gebärdensprache zu unterrichten. Sofort wurde mir klar, dass mir eine sprachliche Systematik in DGS für den Unterricht fehlte. In der Schule lernte ich, was eine Silbe auf Deutsch ist und wie sie aufgebaut wird. Eine Silbe braucht einen oder mehrere Konsonanten und mindestens einen Vokal, welcher der Kern ist. Vokale sind wichtig, damit man die Silbe wahrnehmen kann (die liebe Sonoranz!), wie z.B. „Salz“. „Slz“ auszusprechen ist unmöglich und man würde das nicht als Wort oder etwas Gesprochenes wahrnehmen, wohl eher als Gebrabbel eines Säuglings. Aber wie sieht das in der DGS aus? Ich suchte mir Grammatiken zur DGS und war überrascht, dass es nur zwei größere Grammatiken zu unserer Sprache gibt. Das Deutsche hat so viele Bücher darüber, wie man einen simplen deutschen Satz baut, euch allen sind sie sicherlich sehr bekannt: die bunten und hübschen DUDEN-Bücher... aber für DGS so gut wie gar nichts? Teuer und schwer zu beschaffen? Das war eine erste enttäuschende Erfahrung. Egal, ich setzte alles an, um eines zu erwerben und las sie begierig. Darin wurde erklärt, dass die DGS-Silbe mit anderen Mitteln aufgebaut wird: Mit einer Handform und einer Bewegung. Damit eine Gebärde wahrnehmbar wird (also sonor), muss die Hand sich irgendwie bewegen. Wenn wir bei dem DGS-Äquivalent für „Salz“ bleiben wollen: Die Hand wird so geformt, als ob man wirklich Salz über etwas streut. Wenn sie bewegungslos ist, übersieht man die Gebärde völlig. Also muss sie sich bewegen, indem die Finger Streubewegungen machen. Da machte es bei mir gewaltig „Klick“! Ah, im Deutschen ist der Vokal wichtig, in DGS die Bewegung! Mein Gott, das ist so ein simples Konzept und wunderschön. Da sprudelten gleich weitere Gedanken, wie „Wenn man die Bewegung ganz langsam macht, wie wirkt das auf den Zuschauer? Und bei einer sehr ausladenden Bewegung im Raum? Und was ist, wenn man die Handform ändert, aber dieselbe Bewegung macht? Was könnte das bedeuten, wenn ich diese Gebärde mache, aber mit den Lippen Blubbergeräusche imitiere?“ Ich ahnte ein wenig, dass es Mittel gibt, das bestehende Repertoire meiner Gebärdensprache künstlerisch zu modifizieren. Dass dies die (Stil)mittel in der Gebärdensprachliteratur bzw. -poesie sein könnten, war mir noch gar nicht bewusst. 

Das erste Mal, dass ich authentische Gebärdensprachpoesie erlebte, war auf einer Deaf-Motto-Party in Nordrhein-Westfalen vor gut 10 Jahren. Dort trat Rafael Grombelka als Überraschungsgast auf. Im Vorfeld seines Auftritts spürte ich bereits eine Spannung, der DGS-Satz „Guck mal, heute wird es Gebärdensprachpoesie geben, bloß wer tritt da auf?“ wurde mehrmals unter den Partygästen wiederholt, immer mit leuchtenden Augen. Da wurde mir langsam bewusst, dass sie alle sich darauf freuten, weil das so selten vorkommt. Schließlich habe auch ich vorher nie so etwas selbst gesehen, immer nur erfahren. Rafael trat in dunkler Kleidung auf einer Bühne auf und gebärdete sein Poesiestück. Mal wurde er langsamer, mal wurde er schneller, mal breitete er seine Arme ganz weit aus, mal lagen seine Arme ganz nah beieinander, mal änderte er die Handformen, mal hielt er einfach an, mal änderte er die Lippenbewegungen, mal zog er die Augenbrauen zusammen, mal entspannte sich sein Gesicht, mal lächelte er... In dem Moment dachte ich nur: „Oh wie komplex ist dieses Zusammenspiel... und wie rasch das geht!“ und verlor völlig den Faden, was der Inhalt seines Stücks war. Als er endete, war das Händewedeln (Applaus) der Zuschauer*innen enorm. Dann ging die Party weiter, als ob nichts passiert wäre und ich blieb mit der Frage zurück, was denn der Inhalt des Stücks war. Da fragte ich einige und die meisten antworteten nur: „Ach, das war soooo toll!“ oder „Klasse Auftritt!“! Es kamen nur positive Rückmeldungen. Aber nichts Konkretes über den Inhalt. Wollten sie damit ihre Unsicherheit überspielen? Ich wunderte mich da ein wenig. Auch nach vielen Jahren weiß ich heute immer noch nicht, was die Aussage des Grombelka’schen Stücks war (aber ich muss zugeben, ich weiß auch nicht mehr was und wie er gebärdet hat, DGS ist ja schließlich flüchtig und das ist schon zehn Jahre her, mein Gedächtnis ist auch nicht das beste).

Später sah ich weitere Gebärdensprachpoeten und -literaten wie Giuseppe Giuranna, Jürgen Endress und Slammer wie Ace Mahbaz und Dawei Ni, meist auf Festivals oder als Video im Internet. Nur am Rande erwähnt, das sind nur Männer, bisher ist Gebärdensprachkunst auf öffentlichen Bühnen sehr männerdominant in Deutschland. Wo bleiben da die Frauen und Mädchen? Ich blieb meistens mit dieser Frage zurück: „Was wollten sie damit sagen?“ und fragte andere Zuschauer*innen danach, aber sie reagierten alle ausschließlich positiv und fraglos auf deren Präsentationen. Kein einziges Sterbenswörtchen über den Inhalt, keine (konstruktive) Kritik. Ich lief oft mit dieser Frage herum und wurde nicht schlau daraus. Bis ich neulich einen Artikel von Tom Humphries, einem tauben Wissenschaftler aus den USA, in der Zeitschrift DAS ZEICHEN (Nr. 107/2017) über Kultur und Kunst in der Gebärdensprachgemeinschaft las. Er sagte, dass die Gemeinschaft so klein und intim sei, dass daher Kritik nicht erwünscht sei, weil man die Künstler*innen auf persönlicher Ebene treffen würde. Das war die Antwort. Viele Taube sagen „Toll!/Super!“ zu allen künstlerischen Präsentationen, um die*den Künstler*in nicht zu verletzen. Zugleich möchten die Tauben sie gleichzeitig fördern, damit diese Literatur und Kunstformen weiterhin bestehen bleibt und nicht untergeht, was ja gut gemeint ist. 

Ich denke jedoch, dass es einen weiteren schwerwiegenderen Grund gibt: Wir Tauben haben es nie gelernt, Kunstkritik und -analyse zu betreiben. Da komme ich wieder auf die Gehörlosenschule zurück: Dort wurde das tatsächlich gar nicht vermittelt oder nur am Rande, und ausschließlich für Deutsch. Nie gab es das Fach DGS, wo man neben Grammatik auch Literatur und alles Drumherum lernen konnte. Beide Argumente liefern wohl Gründe, warum es keine Kritik an literarischen/künstlerischen Performances und keine weiterführenden Diskussionen darüber gibt - was sehr bedauerlich ist. Das muss man sich wohl selbst aneignen, das machen nicht alle, weil, wie ich schon anfangs sagte: Sobald das Wort ‚Literatur’ auftaucht, verpufft das Interesse wie ein geplatzter Luftballon. Dabei ist das doch für eine Vertiefung bzw. Ausbildung einer qualitativ hochwertigeren Gebärdensprachkunst und -literatur sehr bedeutend. Und nebenbei gesagt, für den DGS-Zuschauer ist eine derartige Diskussion und Analyse geistig sehr anregend, sie fördern bzw. stärken die sozialen Beziehungen und bilden weiter. 

Jetzt, um einige Erfahrungen in Gebärdensprachperformance reicher und ausgestattet mit Literaturanalyse-Techniken aus meiner Schulzeit, versuche ich mich immer wieder, einige solcher zu untersuchen und zu interpretieren. Inzwischen bin ich auch als Doktorandin in die Welt der Gebärdensprach-Linguistik eingetreten und mir fielen Texte und Artikel zu Gebärdensprach-Poesie in die Hände (obwohl es meistens Untersuchungen über Poesie/Literatur in ASL oder BSL waren). Zu den vorangegangenen Fragen über die Silbe konnte ich Folgendes lesen: Wenn die Bewegung ausladend ist, also einen großen Raum einnimmt, dann ist dies eine Betonung oder sehr ‚laut’, ist sie jedoch kleiner als die Grundform, dann ist sie unbetont bzw. ‚leise’. Oder wenn ein Parameter der DGS-Phonologie (Handform, -orientierung, Ausführungsstelle und Bewegung) verändert wird und systematisch in der DGS-Performance eingesetzt wird, dann ist dies eine Art Reim, z.B. die Repräsentanten der Notation hierfür DGS-Gebärden: ROHR-TISCH oder MÄDCHEN-GRÜN. Das ist mit einem Reim im Deutschen vergleichbar, etwa wie Baum/Raum oder Meer/mehr. Oder wenn eine bestimmte Handform oder einer der Parameter am Anfang jeder DGS-Gebärde immer wieder eingesetzt wird, dann ist das ganz klar eine Alliteration, ähnlich im Deutschen mit den gleichlautenden Anfangsbuchstaben: „Milch macht müde Männer munter.“ Oder, oder, oder... Man kann wirklich oft dieselben Analysetechniken wie in der Laut- bzw. Schriftsprache verwenden. Das ist aber nicht immer 1:1 übertragbar und zuweilen der unterschiedlichen Modalität geschuldet. Ein Beispiel ist der Parallelismus bei Rollenübernahmen in Gebärdensprachen. Eine einzelne Person kann es schaffen, mittels Blick, Körperhaltung, Hände, Mimik, Tempo u.a. zwei oder drei Personen/Lebewesen simultan darzustellen. Wegen der Sequentialität des Deutschen ist eine solche Darstellung nicht möglich. Da muss man erst mal Person 1, dann Person 2 und so weiter präsentieren. Das ist diesmal ein Pluspunkt für Gebärdensprachliteratur! Da kann man im Deutschen alles tun, um diesen Parallelismus zu erreichen, das geht partout nicht! Hier schwillt meine Brust vor Stolz über die DGS! 

Oh, das ist so faszinierend, wie der menschliche Geist es schafft, in unterschiedlichen Sprachmodalitäten das gleiche Konzept von „Betonung“ oder „Reime“ zu generieren! Und warum hat mir keiner von den Lehrer*innen das damals beigebracht? 

Jetzt erschließt sich mir eine völlig neue Welt, sowohl im Deutschen als auch in der DGS und anderen Sprachen ebenso! Ich beherrsche auch weitere Sprachen wie die Brasilianische Gebärdensprache (Libras), Portugiesisch, Amerikanische Gebärdensprache (ASL), Englisch, Italienisch... Ich muss die Gelegenheit hier mal nutzen und das deutlich machen: viele taube Personen sind polyglott, was man oft nicht glauben mag! Seitdem sind mir nun literarische und rhetorische Konzepte in beiden Sprachen viel verständlicher und ich kann etwa Stilmittel in allen Sprachen, die ich kann, ganz gezielt einsetzen. Die Kenntnisse über die eigene und die anderen Sprachen ergänzen sich wunderbar und sind so bereichernd. Daher muss ich wirklich jetzt nochmal betonen, dass ein Unterricht in DGS-Grammatik und anschließend Gebärdensprachliteratur für alle tauben Kinder und Erwachsenen an allen Gehörlosenschulen, die Verfügbarkeit derer in Bibliotheken und die Sichtbarkeit derer in Kulturprojekten und Literaturveranstaltungen wichtig ist. Aber ein kontrastiver Vergleich zum Deutschen ebenso, denn das fördert die Sprachkompetenzen in beiden Sprachen und Modalitäten. Beide profitieren voneinander und dies ist gut für den Bilingualismus. Das sollte heute, im Jahre 2018 bereits selbstverständlich sein! Viele Menschen da draußen lernen ihre eigene Sprache und zusätzlich mehrere Fremdsprachen, um sich besser in der Welt zurechtfinden zu können! Warum dürfen Taube das nicht tun?

Heute, mit 35 Jahren (!), habe ich es verstanden, was es mit Sprachrhythmus und -melodie auf sich hat, weswegen ich einst in der Realschule so erbost war. Dank meiner Studien zur DGS. Danke an all die Autor*innen der DGS-Grammatiken und die Wissenschaftler*innen, die sich mit Gebärdensprachliteratur beschäftigen, und vor allem an die Künstler*innen, die diese Literatur erschaffen!