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Ikonische Differenz
Vom Übersetzen literarischer Texte in und aus Gebärdensprachen
Schrift Essay von Tomas VollhaberÜbersetzen steht im Dienst des Verstehens fremder Sprachen. Diese Aufgabe zu erfüllen scheint bis heute seine vornehmste Pflicht zu sein. Im Schatten dieser Pflicht kann Übersetzen jedoch noch als etwas ganz anderes verstanden werden. Neben dem Verstehen einer fremden Sprache eröffnet Übersetzen ein Verständnis für das Kennenlernen der Ränder der eigenen Sprache. An diesen Rändern bewegt sich literarisches Sprechen.2
Gebärdensprachtheater
Theaterspielen blickt auf eine lange Tradition in der Gehörlosengemeinschaft zurück und das Übersetzen literarischer Texte in Gebärdensprachen war dabei Voraussetzung bei Inszenierungen von Dramen und Komödien. Solche Aufführungen waren ein geselliges Ereignis. Neben dem Spaß und der Unterhaltung, den der Besuch einer Inszenierung von Gehörlosen für Gehörlose bedeutete, dienten die Inszenierungen dazu, einen Zugang zu jenen Bildungsgütern zu schaffen, der ihnen die Gehörlosenschule vorenthalten hat. Da es bis in die 70er- und 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts bei den meisten Gehörlosen noch wenig Wissen gab, was es mit der Gebärdensprache auf sich hat – außer dass man in ihr kommunizierte –, war die Sprache, in die die Stücke übersetzt und auf die Bühne gebracht wurden, sehr unterschiedlich – pantomimisch, lautsprachbegleitend (LBG), lautsprachlich mit deutlichem Mundbild – resp. bediente sich diverser Mischformen. Die meisten Gehörlosen waren mit einer Vorstellung aufgewachsen, die die Kommunikationsform, die sie untereinander benutzten und die sie als Plaudern bezeichneten, mit dem, was unter einer Sprache zu verstehen war, wenig zu tun hatte und insofern ungeeignet war, sich ihrer für eine Übersetzung aus der Sprache Goethes, Schillers, Shakespeares und anderer zu bedienen. Erst langsam verbreitete sich die Erkenntnis, dass es sich bei Gebärdensprachen um vollwertige Sprachsysteme handelt, für deren Anerkennung es sich zu kämpfen lohnt – oft genug in Opposition sowohl zu den gehörlosen Altvorderen als auch den hörenden Angehörigen, Lehrern und Seelsorgern. Der Kampf um die Anerkennung der Gebärdensprache war seit Ende der 80er-Jahre Mittelpunkt im Ringen um eine taube Identität.
Dieser Kampf wurde auf unterschiedlichen Ebenen geführt: in den Familien, in der Früherziehung, in den Gehörlosenschulen, in den Kulturvereinen. Dort gründeten sich Theatergruppen, deren meist junge Mitglieder selbstbewusst ihr Taubsein zeigten und stolz ihre – zumeist selbst verfassten – Stücke in Gebärdensprache aufführten, in denen sie von ihren Lebenserfahrungen berichteten. Auch etablierte Theatergruppen, wie das Deutsche Gehörlosen-Theater (DGT), das die Skepsis um das Interesse an der ‚sogenannten Deutschen Gebärdensprache (DGS)‘ mit ihrem älteren Publikum teilte, musste sich schließlich dieser neuen Situation stellen, und zeigte 1996, geleitet von dem jungen und tauben Regisseur Thomas Zander, mit einer Inszenierung der Antigone von Jean Anouilh eine Produktion in ‚reiner DGS‘. Der Auftrag der Regie an die tauben Schauspieler bestand darin, ihren Text in möglichst exakte DGS zu übersetzen.
An dieser selbst gestellten Aufgabe hat sich seitdem wenig geändert. Auch wenn es heute selbstverständlich ist, Produktionen tauber Theatergruppen in Gebärdensprache aufzuführen, liegt die Hauptanstrengung der meisten Inszenierungen darin, wenn es sich um die Inszenierung bekannter Dramen oder Komödien handelt, eine möglichst anspruchsvolle an den linguistischen Regeln der DGS orientierte Übersetzung der Texte zu liefern, wie das zuletzt das DGT in seiner Produktion von Carlo Goldonis Diener zweier Herren3 gezeigt hat. Es gilt, das Publikum mit prächtigen Kostümen, einer eindrucksvollen Kulisse und vor allem einer ausgefeilten Gebärdensprache zu unterhalten, die in der Lage ist, Goldonis Sprachwitz in Gebärdensprache wiederzugeben. Die Frage, ob Goldonis Stück außer Klamauk den tauben und hörenden Zuschauern etwas zu sagen hat, wurde nicht verhandelt.
Auch die aktuelle Inszenierung der Berliner Theatergruppe possible world folgt im Sommernachtstraum4 diesem Anspruch. Im Fokus stand vor allem, eine Übersetzung des Shakespeare-Textes in einer bühnenreifen Gebärdensprache zu präsentieren. Dabei verlor die Inszenierung jedoch völlig aus dem Auge, dass die Komödie nicht durch eine ‚schöne‘ Gebärdensprache, Visual Vernacular oder Sign Mimic, sondern durch eine von der Regie zeitgenössisch inszenierte und von den Schauspielern engagiert gespielte Aufführung zum Leben erweckt wird (vgl. Vollhaber 2018, 308ff.).5
Dass in aktuellen Inszenierungen des DGT und sogar bei der Inszenierung einer interkulturell und inklusiv arbeitenden Gruppe wie Possible World6 das Primat einer Übersetzung gilt, die sich an den linguistischen Regeln der DGS orientiert und nicht an der Frage, ob das Stück, das zu inszenieren man sich vorgenommen hat, die Lebenswirklichkeit tauber und hörender Menschen berührt, und den Zuschauern in einer Sprache gezeigt wird, die diese Lebenswirklichkeit zum Ausdruck bringt, zeigt, dass das Thema Übersetzen in den Köpfen tauber und hörender Theatermacher immer noch vor allem als linguistische Dienstleitung verstanden wird. In Vergessenheit gerät dabei, dass Übersetzen literarischer Texte in Gebärdensprache nicht nur einer Vorstellung verpflichtet ist, die sich am Primat des Verstehens orientiert, sondern gleichzeitig immer auch körpersprachliches Inszenieren beinhaltet. Damit wird das Moment des Ereignishaften, das mit Körper und Aufführung verbunden und für das Theater essenziell ist, verpasst.7 Dieses Moment des Ereignishaften ist gerade nicht dem Primat des Verstehens unterworfen, sondern im Gegenteil, es entzieht sich dem unmittelbaren diskursiven Verständnis.8
Dabei wurden taube Theatermacher schon früh mit der Erfahrung konfrontiert, dass Übersetzen mehr ist, als einen Text von einer in eine andere Sprache zu transformieren. Bereits Mitte der 90er-Jahre inszenierten die beiden Regisseure Wolfgang Feindt und Sabine Mohr mit Mitteln des postdramatischen Theaters auf Kampnagel in Hamburg Heiner Müllers Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten und Carlo Gozzis Die Rätsel der Turandot gemeinsam mit hörenden und tauben Schauspielern in Sprachen, die Deutsch und DGS in verfremdeter Form zeigten. In der gleichen Zeit sorgten der hörende Regisseur Thierry Roisin zusammen mit dem International Visual Theatre (IVT), Vincennes, mit ihrer Inszenierung der Antigone bei den Festspielen in Avignon 1995 für Aufsehen. Gegen den Widerstand der tauben Schauspieler hatte Roisin durchgesetzt, dass der Sophokles-Text nicht nach den grammatikalischen Regeln der Französischen Gebärdensprache (LSF) aufgeführt wird, sondern in einer Form, die sich von der den tauben Schauspielern vertrauten Alltagsgebärdensprache deutlich unterschied.9 Vor allem der Verzicht auf die in Gebärdensprachen wichtige Mimik sorgte für Aufregung. Wie soll unter diesen Bedingungen das taube Publikum, dem sich die Schauspieler verpflichtet fühlten, die Handlung verstehen? Für die Tauben war es eine Zumutung, dass sich ein hörender Regisseur in ihre Gebärdensprache einmischte, um die sie jahrelang gekämpft hatten und die endlich eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr. Und sie fürchteten die erneute Bevormundung durch einen Hörenden, der ihnen ein Theaterkonzept diktierte, mit dem sie nichts anzufangen wussten. Der große Erfolg, den die Produktion in Avignon feierte, war da nur ein kleiner Trost, und wurde von den tauben Schauspielern eher mit Argwohn begleitet. Levent Beskardés, einer der tauben Schauspieler, meinte dazu lakonisch: „Ich denke, dass es sich um Theater der Hörenden handelt.“10
Gebärdensprachpoesie
Anders als das Übersetzen literarischer Texte in Gebärdensprachen sind die Erfahrungen des Übersetzens aus gebärdensprachlichen literarischen Texten eher gering. Schon immer waren zu den Inszenierungen des DGT und anderer tauber Theatergruppen hörende Zuschauer gekommen, anfangs vor allem Angehörige und Freunde. Ihre Zahl wuchs mit dem zunehmenden Interesse an Gebärdensprache und es kamen Menschen, die über keine oder nur geringe Gebärdensprachkenntnisse verfügten. Da der Wunsch bei den tauben Theatermachern groß war, auch diesen Zuschauern einen Zugang zu ihren Inszenierungen zu ermöglichen, setzte man Gebärdensprachdolmetscher an den Rand, die das Bühnengeschehen übermittelten. Um die Trennung der Dolmetscher von den Schauspielern aufzuheben, gab es Produktionen, in denen sich die Dolmetscher unter die tauben Schauspieler mischten und auf diese Weise Teil des Spiels wurden.
Eine andere Übersetzungstechnik war die aus Opernhäusern bekannte Form der Übertitelung. Bereits 1995 hatte das IVT den französischen Text von Antigone als Textband über die Bühne projiziert; eine Technik, auf die zuletzt auch das DGT beim Diener zweier Herren zurückgriff.
Alle diese Übersetzungstechniken sind einer Vorstellung geschuldet, die Gebärdensprache als eine mit Lautsprachen gleichwertige Sprache begreift, auf Grundlage linguistischer Forschung, die Gebärdensprachen als vollwertige Sprachsysteme nachgewiesen hat. Im Kontext politischer Forderungen ist diese Erkenntnis von größter Bedeutung. Sie soll dafür sorgen, dass auf sprachlicher Ebene tauben Menschen keine Nachteile auf Grund ihrer Taubheit entstehen, da sie über ein adäquates Sprachsystem verfügen und somit ein Recht auf die Benutzung dieser Sprache in Schule und Ausbildung sowie in alltäglichen Zusammenhängen haben, wie es das Sozialgesetzbuch und die Behindertenrechtskonvention vorsehen.
Im Kontext ästhetischer Fragen – und darum handelt es sich, wenn man sich mit dem Übersetzen in und aus Gebärdensprachen beschäftigt – stellt sich die Situation jedoch anders dar. Die Inszenierungen auf Kampnagel und des IVT haben bereits angedeutet, dass sprachliche Besonderheiten der einen Sprache nicht ohne Weiteres auf die der anderen Sprache zu übertragen sind. Bisherige Übersetzungstechniken haben sich vor allem dadurch ausgezeichnet, sprachliche Besonderheiten und damit die ästhetische Differenz zu nivellieren, um den Verständnisfluss nicht zu gefährden. Es stellt sich jedoch die Frage – und die wird beim Übersetzen aus Gebärdensprachen besonders virulent –, ob die politische Forderung eines Gleichwertigkeitsprinzips den ästhetischen Anforderungen – sowohl was Gebärden- als auch Lautsprachen betreffen – gerecht wird.
In seiner Untersuchung Theater und Taubheit. Ästhetiken des Zugangs in der Inszenierungskunst (2015) hat Rafael Ugarte Chacón darauf aufmerksam gemacht, dass die meisten Formen des Übersetzens, wie sie bisher vorgestellt wurden, einem Konzept folgen, das die Differenz taub/hörend mit ihren accessibility devices (Dolmetschern, Über- resp. Untertitelung u.a.m. im Sinne von Vorstellungen, die mit dem Begriff ‚Barrierefreiheit‘ einhergehen) zu überwinden versucht. Angemessener und interessanter seien jedoch die Versuche, so Ugarte, statt die Differenz zu überwinden sie zu markieren. Eine Inszenierung, die diese Markierung vornimmt, folgt seiner Auffassung nach einer aesthetics of access.
Die Unterscheidung zwischen accessibility und access erinnert an die Unterscheidung, die im aktuellen politischen Diskurs zwischen Integration und Inklusion vorgenommen wird, denn wie accessibility versucht Integration die Differenz von behindert und nicht behindert zu überwinden, während access und Inklusion diese Differenz betonen. Die unbefriedigenden Erfahrungen mit dem Konzept der Integration führten dazu, dass heute auf Druck und durch die Initiative der Betroffenenverbände der von den demokratischen Parteien und Sozialverbänden getragene politische Wille in Richtung Inklusion weist. Wie radikal dabei Inklusion die Vorstellung eines ‚geordneten Nebeneinanders‘ Behinderter und Nicht-Behinderter durch seine Infragestellung von (Nicht-)Behinderung kritisiert, wird an den großen Schwierigkeiten und dem Widerstand vieler Beteiligter deutlich, die bei der Umsetzung inklusiver Konzepte auftreten. Ugartes Untersuchung greift das politische Konzept der Inklusion auf und versucht es mit dem Begriff einer aesthetics of access für das Theater Hörender und Tauber nutzbar zu machen.
Er schreibt: „Ohne die Wichtigkeit von Accessibility-Maßnahmen und gehörlosenkulturellen Gegenräumen bestreiten zu wollen, sind diese beiden Strategien allein nicht ausreichend, um das Ziel der Inklusion zu verwirklichen. Der Grundgedanke von Inklusion, der bei aller Heterogenität von einer Gesellschaft ausgeht, impliziert meines Erachtens insbesondere die gemeinschaftliche künstlerische Arbeit von Gehörlosen und Hörenden, die sich auch gleichermaßen an ein hörendes wie taubes Publikum richtet“ (Ugarte 2015, 60; Herv. i. Orig.).
Anders als bei Theaterinszenierungen wurde das Übersetzen von Gebärdensprachpoesien mit großer Vorsicht gehandhabt, so es denn überhaupt stattfand. Ähnlich wie das Theaterspielen können auch gebärdenpoetische Formen wie die des Geschichten-Erzählens, der Gebärdenwitze, der Fingeralphabet-Geschichten auf eine lange Tradition in der Gehörlosengemeinschaft zurückblicken. Schönheit und Sprachwitz von Gebärdensprache ließen sich hier besonders anschaulich zeigen. Und ähnlich wie beim Theater die Diskussion um die DGS sich in der Frage zuspitzte, wie ein authentisches Gebärdensprachtheater aussehen soll, ging es auch bei der Poesie um die Frage, was unter Gebärdensprachpoesie zu verstehen sei. Bei einem Treffen der Berliner Gebärdensprach-Kursleiter 1991 war aufgefallen, dass Gehörlose in der Öffentlichkeit anders gebärdeten als in der privaten Sphäre der Familie oder des Clubheims (vgl. Tabbert & Zander 1991, 504). Daraus entstand die Idee, ein Gebärdensprachfestival zu initiieren, bei dem in einem festgelegten zeitlichen Rahmen eine Poesie zu präsentieren ist, die dann entsprechend vorher vereinbarter Kriterien prämiert wird. Die bei den Gebärdensprachfestivals gezeigten Gebärdensprachpoesien wurden jedoch nie übersetzt.
2011 ergriff Aktion Mensch eine Initiative, die durch einen Dokumentarfilm angeregt wurde, der über zwei junge Frauen aus New York berichtete: der tauben Israelin und Schülerin Aneta und der hörenden Palästinenserin und Studentin Tahani, die gemeinsam bei einem Poetry Slam Festival angetreten waren.11 2012 initiierte Aktion Mensch ein landesweites Deaf Slam-Festival, bei dem in Dortmund, München, Heidelberg, Berlin und Hamburg der taube Andreas Costrau und der hörende Wolf Hogekamp zweitägige Workshops anboten und dann bei Regionalausscheidungen taube und hörende Slamer vom Publikum ausgewählt wurden, die Anfang 2013 zum Finale in Hamburg antraten. Beim Finale war dann allerdings kein hörender Deaf Slamer mehr dabei, „die Gebärdensprache ist noch fest in der Hand der Gehörlosen“ (Costrau in: Sehen statt Hören vom 27.04.2013), und auch die Übersetzungen entsprachen dem bekannten Format: Dolmetscherinnen saßen im Publikum und lieferten ihre Translate.
Vielleicht war es genau diese Erfahrung, dass die Übersetzungen so wenig mit dem zu tun haben schienen, was auf der Bühne zu sehen war, dass Costrau und Hogekamp bei einer Poetry Slam-Veranstaltung in Berlin, bei der hörende und taube Slamer antraten, etwas gewagter mit Übersetzungen experimentierten. In der Sendung von Sehen statt Hören vom 12.10.2013, die über die Veranstaltung berichtete, wird die Frage nach dem Übersetzen explizit gestellt, „ob man Gebärdensprachpoesie so einfach in die Lautsprache übersetzen kann? Oder auch umgekehrt, ob ich als Gehörloser wohl die Poesie der Hörenden verstehen kann?“.
Die Gebärdensprachdolmetscherin Oya Ataman hatte die Texte der hörenden Slamer zur Vorbereitung zugeschickt bekommen und sich im Internet Filme von ihnen angeschaut, die ihr einen Eindruck ihres Vortragstils vermittelten. Besonders der jeweilige Sprechrhythmus und die unterschiedlichen Tempi bei der Präsentation waren für ihre Vorbereitung sehr wichtig. Von den tauben Teilnehmern hatte sie sich Videos geben lassen, zu denen sie sagt: „Die gehörlosen Poeten haben verschiedene Stile. Der eine macht die Sache eher visuell. Und ich würde dann bei der Übersetzung das Bild um das Wort ergänzen, was von Hörenden nicht verstanden wird. Mehr will ich nicht machen. Ein anderer zum Beispiel erzählt mehr. Da übersetze ich natürlich mit vollständigen Sätzen“ (Sehen statt Hören vom 12.10.2013). Die Übersetzung einzelner Gebärden, ohne sie in einen narrativen Textzusammenhang zu stellen, gibt den Zuschauern Hinweise und Deutungsmöglichkeiten und gleichzeitig die Freiheit, mit diesen Hinweisen sich selbst einen ‚Sinn‘ aus dem zu erschließen, was er sieht.
Feindt und Mohr hatten diese Idee bereits 1995 in ihrer Turandot-Inszenierung umgesetzt, in der ein fremder Prinz angetreten war, das Rätsel der Prinzessin zu lösen, jedoch von einem Einheimischen vor der tödlichen Gefahr gewarnt wird, in die sich der Prinz begibt. Die Geschichte spielt in China. Das Chinesische des Einheimischen wird als Gebärdensprache inszeniert, die der Held nur bruchstückhaft – mithilfe einzelner Gebärden – zu ‚verstehen‘ vermag und die er dem Publikum übersetzt. Diese Gebärden oder besser die Bilder der Gebärdenzeichen, die der Einheimische zeigt, werden tatsächlich von jedem erkannt, wenn Übersetzungshinweise geliefert werden, und führen zu dem bekannten Effekt, man könne Gebärdensprache ‚verstehen‘.
Doch worin besteht der Unterschied zwischen der Weise des ‚traditionellen‘ Übersetzens der „vollständigen Sätze“, wie es bspw. auch beim Deaf Slam-Finale in Hamburg praktiziert wurde, und jener experimentellen Form, die nur die Übersetzung einzelner Gebärden vornimmt? Sehen statt Hören vom 12.10.2013 bietet hier anschauliches Material. Der Beitrag der tauben Mila Hergert wird von Oya Atamann unter Missachtung der Syntax nur in einzelnen Wörtern übersetzt: BRAUT – BRÄUTIGAM – PAAR – BLUMEN FLIEGEN – BLICKE – HOCHZEITSREISE – BERLIN – SAN FRANCISCO – PROPELLER – TURBULENZEN – GEWITTER – ABSTURZ – ATLANTIK … Wohingegen die Präsentation des tauben Siegers des Abends, Ace Mahbaz, in „vollständigen Sätzen“ übersetzt wurde. „Aber auf einmal fliegt was um mich herum. Was ist das denn? Oh! So eine mutige Fliege! Warte nur! Was!? Gebärdet diese Fliege? Sehe ich da richtig? Hahahaha …“ Was wäre gewesen, wenn die Übersetzerin nur FLIEGE – STAUNEN – FLIEGE GEBÄRDEN … übersetzt hätte? Wäre diese Form der ‚bruchstückhaften‘ Übersetzung nicht viel näher an der Präsentation gewesen, als aus einer gebärdeten Geschichte eine lautsprachliche Geschichte zu machen? Am Ende des Abends meinte einer der hörenden Besucher: „Ich glaube, es ist schwierig, ihre Poesie mit der gesprochenen zu vergleichen. Also, ich hab halt eher mich an dem Fluss der Bewegungen erfreut, so an Wiederholungen, Ausführungen, am Schauspiel, das auch drin steckt“ (ebd.).
Die Entscheidung Atamans, Mahbaz’ Fliegen-Geschichte trotz seiner Bildhaftigkeit in vollständigen Sätzen zu übersetzen, zeigt, dass Entscheidungen beim Übersetzen poetischer Texte eher intuitiv gefällt werden und nicht auf translationswissenschaftlichen Überlegungen beruhen. Während Ataman bei ihrer Hergert-Übersetzung – sozusagen avant la lettre – dem Konzept einer aesthetics of access folgte, geht es bei der Mahbaz-Übersetzung um die mit der Vorstellung von Barrierefreiheit verbundene Anforderung eines Übersetzens im Sinne von accessibility device, der möglichst perfekten Eliminierung kultureller Differenz, und entspricht dem vertrauten ‚als ob‘ des dramatischen Theaters. Das mag, wenn es gut gemacht ist, für den an Unterhaltung interessierten Theaterbesucher befriedigend sein; die auf der Bühne gezeigte ästhetische Differenz jedoch wird ihm dabei entgehen. Zudem ist hörenden Zuschauern die Möglichkeit genommen, sich auf die Bilder der Gebärdenpoesie einzulassen, womit auch das Andere der Gebärdensprache eliminiert wird: die ihr eigene Materialität und Performativität. Und die ihr eigene Bildhaftigkeit. Nur der referenzielle Bezug bleibt erhalten.
Referenz, Materialität und Performativität des sprachlichen Zeichens
Wenn im ersten Abschnitt davon die Rede war, die Texte von Heiner Müller, Carlo Gozzi und Sophokles in einer verfremdeten Laut- und Gebärdensprache zu zeigen, dann verweist diese Verfremdung auf einen Sprachbegriff, der neben dem referenziellen auch den materiellen und performativen Gehalt von Sprache in den Fokus rückt. Der Protest der tauben Schauspieler des IVT und ihre Enttäuschung, dass es sich bei der Antigone um eine Inszenierung für Hörende handelte, die im Widerspruch zu ihrem eigenen Interesse stand, verweist auf ein Missverständnis zwischen den tauben Schauspielern und dem hörenden Regisseur. Roisin versuchte mit den tauben Schauspielern und mit Hilfe der Gebärdensprache einen neuen Blick auf die Sophokles-Tragödie zu ermöglichen, während es den tauben Schauspielern vor allem darum ging, den tauben Zuschauern einen gebärdensprachlichen Zugang zum Plot des Dramas, dem referenziellen Gehalt des Sophokles-Textes zu verschaffen, dessen Kenntnis jedoch den „neuen Blick“ voraussetzt.12 Insofern stießen hier tatsächlich völlig unterschiedliche Interessen aufeinander, die ganz offensichtlich nicht ausgehandelt werden konnten. Die Erwartung, die die tauben Schauspieler hatten, entsprach in etwa der Erwartung, die an Dolmetscher gestellt werden. Und dieser Erwartung an Dolmetscher folgen bis heute die meisten gedolmetschten Theateraufführungen und wie beim Deaf Slam-Festival gesehen auch Lyrikfestivals. Der Konflikt zwischen Roisin und seinem tauben Ensemble macht jedoch die Differenz deutlich, die zwischen Dolmetschen und Übersetzen besteht. Für Übersetzungen ist dabei die Frage immer wieder aufs Neue auszuhandeln, ob es der Übersetzung darum geht, die Differenz der kulturellen und sprachlichen Differenz – zumindest für den Moment der Übersetzung – zu überwinden oder ob es darum geht, diese Differenz markieren?
Übersetzen als einen Prozess der Überwindung kultureller und sprachlicher Differenz zu verstehen, verweist auf den referenziellen Aspekt sprachlicher Zeichen. Tatsächlich können alle ‚Inhalte‘, die laut- oder gebärdensprachlich formuliert werden, in die jeweils andere Sprache transformiert werden. Die Reduktion sprachlicher Zeichen jedoch auf ihren referenziellen Gehalt wird in Teilen der Sprachphilosophie und Literaturwissenschaft kritisch gesehen und als „Krise der Repräsentation“ begriffen, die Dieter Mersch mit der Kritik an einem ausschließlich semiotischen Verständnis sprachlicher Zeichen in Verbindung bringt. Dagegen setzt er ein medientheoretisches Verständnis sprachlicher Zeichen, das „zugleich ein Übergang vom Begriff und den Strukturen der Repräsentation zum Symbolischen einerseits und der Darstellung andererseits entspricht“ (Mersch 2005, 34; Herv. i. Orig.). Mit der Unterscheidung von Symbol und Darstellung versucht Mersch auf den Begriff des Zeichens in seiner ausschließlichen Bestimmung als Negation eine andere Perspektive zu richten. „Zeichen stehen für etwas, was sie selbst nicht sind, das sie vergegenwärtigen, vorstellen oder bezeichnen (funktionaler Zeichenbegriff) bzw. wodurch die Signata sich voneinander abgrenzen oder in Unterschied setzen (struktureller Zeichenbegriff)“ (ebd.). Der Fokus auf Symbol und Darstellung hingegen ermöglicht eine andere Perspektive auf die Zeichen: „Nicht nur repräsentieren oder substituieren diese etwas, sondern mit ihnen kommt die Sache selbst in den Blick – nicht die Sache der Referenz, des Bezeichneten, sondern der Wirklichkeit, des Symbolischen oder der Darstellung selber, ihre spezifische Materialität oder Medialität“ (ebd.).
Mersch betont, dass sowohl Symbol als auch Darstellung auf einen „ästhetisch-phänomenologischen Zeichenbegriff“ (ebd., 35) verweisen, der zur Sichtbarkeit gelangt und wahrgenommen werden kann, und damit die sinnliche Seite des Zeichens zum Ausdruck bringt, im Gegensatz zu dem auf Regeln und Konventionen beruhenden Zeichenbegriff der Semiotik. „Darstellungen gehen – wie Symbolisierungen – nicht nur in ihrer formalen Relationalität auf […]; sie bringen vielmehr das von ihnen Dargestellte oder Symbolisierte jeweils zur Erscheinung“ (ebd.). Anders als im auf Negation beruhenden funktionalen oder strukturellen Zeichenbegriff löst der ästhetisch-phänomenologische Zeichenbegriff eine „Affirmation des ‚Daß‘ (quod) einer Setzung – mit einem Wort: der Augenblick von ‚Existenz‘“ (ebd.) aus, Existenz hier im Sinne von sinnlicher Erscheinung. „Was an Symbolisierungen und Darstellungen interessiert, sind ihre jeweiligen ‚Verkörperungen‘. […] Verkörperung bildet die eigentliche Arbeit des Symbols, der Darstellung. Mit ihr gelangt anderes in Sicht als nur ihr Sinn oder die Ordnung des Bedeutens, nämlich nichtrepräsentierbare Präsentation“ (ebd., 36).
Gebärdensprache ist in ihrer Körperlichkeit geradezu paradigmatisch für das Verständnis eines ästhetisch-phänomenologischen Zeichenbegriffs. Die Mühe, die das am semiotischen Gehalt orientierte Gebärdensprachdolmetschen mit dem Übersetzen literarischer Texte hat, steht in Zusammenhang mit einem Zeichenbegriff, der sich in seiner Funktionalität und Strukturalität erschöpft, ohne die Körperlichkeit des Gebärdenzeichens, seine Verkörperung zu denken und in der Übersetzung zur Geltung zu bringen. Mersch verweist hier auf die Geschichte der Semiotik, die von zwei Linien aufgespalten ist, der orthodoxen Linie mit der ihr eigenen „Ordnung des Sagbaren“ und der von der orthodoxen Linie bekämpften heterodoxen Linie, der ein Denken im Sichtbaren, in Bildern inhärent ist. „Und führt die erste Linie auf die Logik der repraesentatio, die in den Gesetzen der Aussage oder der diskursiven Hermeneutik gründet und ihre Basis zuletzt in der Sprache findet, gelangt die zweite zu einem Spiel ununterbrochener ‚Analogien‘; sie knüpft ein Band von Stimmigkeiten, das sich nirgendwo auf Gründe beruft, sondern ausschließlich auf sichtbare Formen, welche die Welt als ein ästhetisches Ganzes enthüllen. Das symbolische Denken wie die Gestalten der Darstellung sind darin verortet; sie beschreiben keine Hermeneutik, auch keine dekonstruierbare Strukturalität, sondern eine Ästhetik“ (ebd., 36f.; Herv. i. Orig.).
Wenn Mersch, wie im Titel seines Aufsatzes, von „Paradoxien der Verkörperung“ spricht, die er mithilfe der Paradoxien der Referenz, der Materialität und der Performanz zu erklären versucht, dann nicht, um das Phänomen der Verkörperung selbst in Frage zu stellen, sondern um auf „die Unruhe des Symbolischen“ (ebd., 37) hinzuweisen, seine, wie er es nennt, „chronische ‚Unerfülltheit‘“ (ebd.), die er an der „Unbegreiflichkeit des Bedeutens“, der „‚Ekstatik‘ der Materialität“ sowie der „Ereignishaftigkeit der Setzung“ (ebd.) des sprachlichen Zeichens demonstriert.
Als „Paradox der Referenz“ begreift Mersch das konstituierende Merkmal des Zeichens, das auf etwas verweist, was es selbst nicht ist und dem dadurch eine „chronische ‚Unerfülltheit‘“ eingeschrieben ist. „In der relationalen Logik der Signifikation oder Substitution vermag das Zeichen niemals das Substituierte zu ersetzen. Daraus folgt, daß sein Referenzpunkt beständig entwischt“ (ebd., 38). Oya Atamans Umgang mit der Poesie Mila Hergerts ist dieser chronischen Unerfülltheit des sprachlichen Zeichens geschuldet, in dem sie nur Hinweise oder Lesarten anbietet und das hörende Publikum mit der Unerfülltheit des sprachlichen Zeichens konfrontiert, und ihm damit selbst die Freiheit überlässt, das angebotene Translat mit dem, was es sieht, abzugleichen.
Das „Paradox der Materialität“ verweist auf die dem sprachlichen Zeichen inhärente Duplizität von Funktion und Träger. „Im ersten Fall haben wir es mit einem Sinn, einer Bedeutung zu tun, […] im letzten Fall mit dem, was das Zeichen selbst in seine Präsenz, seine Stellung innerhalb der symbolischen Ordnung bringt, um ihm allererst eine sinnliche Anwesenheit zu verleihen“ (ebd., 42). Während ein semiotisches Verständnis allein die Funktion des Zeichens als Stifter von Sinn oder Bedeutung im Blick hat, verweist ein ästhetisch-phänomenologischer Zeichenbegriff auf den Träger selbst und seine materielle und mediale Beschaffenheit. Paradox ist die Materialität darin, dass sie die Voraussetzung für die Realisierung des Zeichens darstellt, ohne selbst Bestandteil der Semiose zu sein. Materialität kann ihre Materialität nicht selbst reflektieren. Dazu bedarf es wiederum eines weiteren Sprechakts, der wiederum seine ihm eigene Materialität nicht reflektiert. Materialität stellt die Bedingungen oder Voraussetzungen dar, „die erfüllt sein müssen, damit ein Zeichen oder ein Symbol, eine Darstellung in Erscheinung treten können“ (ebd., 43).
In den Aspekten der Referenz und der Materialität des sprachlichen Zeichens tritt das mit Sprache verbundene Phänomen der Differenz von Sagen und Zeigen deutlich hervor. Während das Zeichen in seiner referenziellen Funktion auf das Sagen verweist, zeigt die Materialität des Zeichens den Zeichenträger, zu dessen Wesen nicht nur der Aspekt seiner Materialität, sondern auch, als dessen komplementärer Teil, der Aspekt der Performanz gehört.
Mersch begreift Performanz als das Ereignis einer nicht intentional gedachten Setzung, „es genügt vielmehr anzunehmen, daß ‚geschieht‘“ (ebd., 46; Herv. i. Orig.). Für das „Paradox der Performanz“ gilt wie für das der Materialität, dass es eine weitere Voraussetzung für die Realisierung des Zeichens darstellt, ohne selbst Bestandteil der Semiose zu sein. Auf die gleiche Weise, wie der Materialität ein Bewusstsein ihrer Materialität entgeht, entgeht der Performanz ein Bewusstsein ihrer Performanz. Aus diesem Grund, so Mersch, „gehört zur Performativität ihre Undarstellbarkeit, ihre – wie sich auch sagen läßt – Unverfügbarkeit: Sie hat den Charakter eines Ereignens“ (ebd., 46f.).
In Gebärdensprache allgemein, besonders jedoch in Gebärdensprachkunst sind Materialität und Performativität – deutlicher und wahrnehmbarer als in Lautsprachen – ein wesentlicher Bestandteil ihrer sprachlichen Wirklichkeit. Die Nicht-Existenz einer gebärdensprachlichen Schrift und ihre alleinige Realisierung in der gebärdensprachlichen Aktion macht sie zum Inbegriff einer verkörperten Sprache. Aus diesem Grund sind bei der gebärdensprachlichen Realisierung neben ihrer Referenzialität immer Materialität und Performativität mitzudenken. Das gilt selbstverständlich auch und gerade in den Prozessen des Übersetzens in und aus Gebärdensprachen. Dabei ist zu bedenken, dass einer verkörperten Sprache immer das Moment ihrer Unverfügbarkeit inhärent ist, „daß wir unsere Symbole nie vollständig in der Hand halten, daß wir nirgends über sie zu herrschen oder mit ihnen frei zu spielen vermögen, daß vielmehr ihrer Anwesenheit eine Macht entspringt, die von unseren Verständnissen weder besiegelt noch ganz umfaßt werden kann“ (ebd., 52).
Sonnet 130 von William Shakespeare
2009 beteiligte sich Renate Fischer zusammen mit Simon Kollien und Stefan Goldschmidt an einem internationalen Übersetzungsprojekt anlässlich des 400. Jahrestages der Erstveröffentlichung der Sonette William Shakespeares. Auf Grundlage von Konzepten der kognitiven Linguistik erstellten sie zwei gebärdensprachliche Übersetzungen seines 130. Sonetts.13 Die in Fischers Text dargestellte detaillierte Beschreibung der gebärdensprachlinguistischen Mittel, die in der Übersetzung verwandt wurden, lassen erkennen, worin das Ziel der Beteiligung bestand: den Nachweis zu erbringen, dass die Übersetzung eines Gedichts aus dem klassischen literarischen Kanon entsprechend der Grammatik der DGS (resp. der Amerikanischen Gebärdensprache (ASL)) möglich ist und eine eigene ästhetische Qualität entfaltet. „The signed versions of sonnet 130 proposed here highlight the characteristics of sign languages, their vivacity, complexity and magic. Perhaps they can give the reader-seer the opportunity to experience meaning constitution in a new way. Still, as the reader will certainly experience, the imagistic character of sign languages does not, to unacquainted hearing people, convey immediate understanding“ (Fischer 2009, 598).
Zweifellos ist der Nachweis erfolgreich erbracht worden. Es fragt sich allerdings, wem dieser Nachweis gilt? Bereits der Hinweis auf den mit Gebärdensprache nicht vertrauten Hörenden, dem sich die gebärdensprachliche Übersetzung nicht sofort erschließen wird, wie auch die Betonung „(n)o trace of pantomime can be found, these are sign language texts“ (ebd., 598f.) macht deutlich, dass es Fischer darum geht, den Fremdsprachencharakter von DGS und ASL zu unterstreichen: „But sign language is no pantomime even though it conveys vivid pictures. Neither is sign language an acting-out, even though signer sometimes assume roles. All this is done in a systematic way which has to be learned“ (ebd., 597). Der interessierte aber mit Gebärdensprache nicht vertraute Sonettfreund, der sich die beiden Übersetzungen anschaut, mag sich also für einen Augenblick an „vivacity, complexity and magic“ erfreuen; aber es sind verbotene Früchte, die er da bestaunt, deren Ernte die harte Arbeit des Erlernens einer Fremdsprache voraussetzt. Insofern wird sich das in Aussicht gestellte Versprechen, wonach der Betrachter „meaning constitution in a new way“ erfährt, nicht erfüllen, da sich ihm nach Fischer die gebärdensprachliche Übersetzung nicht erschließen wird.
Die Frage also, an wen sich Fischers Text und die Übersetzungen von Kollien und Goldschmidt richten, wem der Nachweis gilt, eröffnet keine ästhetische, sondern eine politische Debatte um die Anerkennung von Gebärdensprache als einer Sprache, die auch in der Lage ist, ein Sonett von Shakespeare zu übersetzen. Da ist es konsequent, dass sich Fischer auf die kognitionslinguistisch orientierte Metaphorologie von Lakoff und Johnson bezieht, und die Bewegungsverläufe der Gebärden nach oben, wenn vom Ideal, und nach unten, wenn von der Wirklichkeit der Dark Lady des Dichters die Rede ist, mit Lakoff und Johnsons Metapherntheorie in Verbindung bringt. „Following Lakoff/Johnson (1980), cognitive linguistics has highlighted the use of metaphor in languages, of ‚metaphors we live by‘ (Lakoff/Johnson 1980). According to this approach what is up is unterstood to be good, or ‚high-spirited‘, and what is down is understood to be bad or ‚down‘“ (ebd., 601).
Nicht berücksichtigt wird hier jedoch, dass der Gegenstand von Lakoff und Johnson „metaphors we live by“, also die in der Alltagssprache benutzten Metaphern sind. Sie schreiben, „dass die Metapher unser Alltagsleben durchdringt, und zwar nicht nur unsere Sprache, sondern auch unser Denken und Handeln. Unser alltägliches Konzeptsystem, nach dem wir sowohl denken als auch handeln, ist im Kern und grundsätzlich metaphorisch“ (Lakoff & Johnson 2004, 11). Die inszenierten Metaphern einer Kunst- und Bühnensprache sind jedoch nicht ihr Untersuchungsgegenstand.
Fischer erwähnt die poetologischen Überlegungen von Clayton Valli, die sich in einer linguistischen Tradition befinden, „who also expressed early relevant reflections on signed poetry by focussing on rhyme“ (ebd., 597). Valli war in den 1980er-Jahren mit anderen Linguisten angetreten, den Nachweis poetischer gebärdensprachlicher Stilmittel zu erbringen, um zu belegen, dass es neben der Alltagsgebärdensprache auch eine Gebärdensprachpoesie gibt. Dass sich Linguisten und frühe Kämpfer für die Anerkennung der Gebärdensprache bei ihren Überlegungen zur Gebärdenpoesie an Vorstellungen der laut- und schriftsprachlichen Poetik wie Vers und Reim orientierten, ist nicht verwunderlich, denn auch die frühe Gebärdensprachlinguistik orientierte sich an der traditionellen Terminologie der Lautsprachlinguistik, um Gebärdensprachen zu beschreiben. Problematisch jedoch bleiben solche Beschreibungsversuche, weil sie dem Rechtfertigungscharakter nicht entkommen, die die Suche von Analogien poetischer Formen in Schrift- und Gebärdensprachen beinhalten, in dem Sinne, wenn wir über ein vollwertiges Sprachsystem verfügen, dann muss dieses System auch poetische Formen entwickelt haben: Da sich die Ordnung der Gebärdensprachen an der Grammatik der Lautsprachen orientiert, muss sich die Ordnung einer Gebärdenpoesie an tradierten Formen laut- und schriftsprachlicher Poetologien orientieren.
Der Schlussgedanke in Fischers Text weist jedoch über ihren eigenen Text hinaus: „The body is the heart of sonett 130, it is the core of sign languages – of all languages“ (ebd., 601). Dass sie den Körper, der in der Gebärdensprachlinguistik als ein Werkzeug zum Erzeugen von Gebärdenzeichen rezipiert wird, als Herz resp. Kern von Gebärdensprachen (und aller Sprachen) bezeichnet, deutet darauf hin, dass es für sie neben dem Erlernen, der Verwirklichung und der Rezeption einer Fremdsprache noch etwas anderes gibt, das mithin allen Sprachen gemein ist und mit Gebärdensprachen im Besonderen zu tun hat.
Der Panther von Rainer Maria Rilke
Der Gedanke, wonach der Körper als Kern von Gebärdensprachen zu verstehen ist, rückt in einem weiteren Übersetzungsprojekt von Renate Fischer ins Zentrum, ohne jedoch von ihr erneut explizit aufgegriffen zu werden. Allerdings führt dieser Gedanke in der Umsetzung des Projekts zu einer radikalen Entscheidung.
Wieder in Zusammenarbeit mit Simon Kollien und Stefan Goldschmidt sowie mit Caren Dietrich und Melanie Rossow beteiligte sich Fischer 2011 am europäischen Projekt „SignLibrary“, das zum Ziel hatte, „gehörlose Menschen durch die Bereitstellung von Translaten über die Kultur der umgebenden hörenden Mehrheitsgesellschaft zu informieren“ (Fischer, Dietrich & Rossow 2011, 164). Während die an dem Projekt beteiligten Partner aus Österreich, Slowenien, Ungarn und Deutschland (Berlin) vor allem literarische Prosatexte in Gebärdensprachen übersetzten und in eine Online-Bibliothek stellten, lieferten Fischer, Kollien und Goldschmidt aus Hamburg mit Rilkes Der Panther den Versuch einer Lyrik-Übersetzung. Anders als beim 130. Sonett, das in ASL und DGS übersetzt wurde, bestand die Aufgabe diesmal darin, eine Gebrauchsübersetzung als „Verstehenshilfe für den Originaltext in einer Kombination aus LBG und DGS“ (ebd., 163) anzufertigen, die Simon Kollien übernahm, sowie eine poetische Version durch Stefan Goldschmidt. Die poetische Übersetzung wurde „ausschließlich mittels einer Art experimenteller Constructed Action (CA)“ (ebd., 164) realisiert.14 Die Übersetzungen verfolgten das doppelte Ziel, „zu Rilkes Gedicht ein gebärdetes Translat zu erstellen, das den deutschen Originaltext zugänglich macht, und ein weiteres Translat, das ein poetisches Äquivalent in DGS bilden sollte, das also Form und Inhalt des Gedichts stimmig vereint“ (ebd.).
Es ist an diesem Übersetzungsprojekt bemerkenswert, dass ein anderer Fokus auf das Übersetzen in Gebärdensprache gerichtet wird. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob dieser andere Fokus von Fischer, Goldschmidt und Kollien tatsächlich intendiert war, denn die Ausführungen von Fischer, Dietrich und Rossow (2011) belegen nachdrücklich ihr Interesse, im Rahmen gebärdensprachlinguistischer Beschreibungen zu bleiben. CA ist eine Besonderheit gebärdensprachlicher Sprechakte, die sich vor allem darin auszeichnet, situatives Erzählen von Begegnungen mit anderen Menschen oder Tieren oder Dingen spielerisch zu inszenieren, was mit einem regen Rollen- und Perspektivwechsel der erzählenden Person einhergeht, wobei auch hier CA festgelegten linguistischen Regeln folgt. Die angedeutete „experimentelle Constructed Action“ zeichnet sich durch einen „vollständigen Verzicht auf Lexeme und einer weitgehenden Reduktion von Klassifikatorkonstruktionen“ (ebd., 165) aus. Im Text von Fischer, Dietrich und Rossow werden die Strategien bei der Übersetzung des Gedichts in experimentelle CA linguistisch detailliert beschrieben. Betrachtet man allerdings die poetische Übersetzung nicht unter einer linguistischen, sondern unter einer ästhetischen Perspektive, entsteht der Eindruck, es mit der mimetischen Darstellung einer Großkatze zu tun zu haben, die sich in einem Käfig auf engstem Raum bewegt. Dass es sich um die Übersetzung von Rilkes Panther handelt, ist nicht zu erkennen. Insofern ist die Rezeption der Gebrauchsübersetzung im Sinne einer „Verstehenshilfe für den Originaltext“ notwendige Voraussetzung, um Stefan Goldschmidts Mimesis als Übersetzung von Rilkes Panther rezipieren zu können.
Eine weitere Voraussetzung für das Verständnis der poetischen Übersetzung ist die Interpretation des Rilke-Gedichts durch Fischer, Dietrich und Rossow (2011): „Die erste Strophe gilt dem Thema ‚Gefangenschaft‘, die zweite dem Thema ‚Kampf‘ und die dritte dem Thema ‚Seelentod‘. Jedes Thema erhält in dieser poetischen Adaption […] sein sprachliches Formelement durch eine spezifische, bedeutungshaltige, ‚zeigende‘ Handform“ (ebd., 166).15
Die radikale Entscheidung der Anfertigung einer doppelten Übersetzung weist auf ein Dilemma hin, in dem sich die fünf Projektbeteiligten unter der Leitung von Renate Fischer befanden, die dem Primat einer linguistischen Übersetzung folgten. Ganz offensichtlich ist es im Rahmen einer linguistisch orientierten Übersetzung nicht möglich, den für das Verständnis von Gebärdensprachen essenziellen Sachverhalt zu denken, es mit einer Sprache zu tun zu haben, die durch den Körper realisiert wird. Die Gebärdensprachlinguistik rezipiert den Körper als den passiven Ort des Vollzugs von Gebärdensprache, dessen sich ein aktiver Sprachwille bedient.16 Das zeigt sich auch im Text von Fischer, Dietrich und Rossow, der von der „durch die experimentelle CA verkörperte Referenzentität“ (ebd., 165), von der „Verkörperung einer Großkatze“ (ebd., 166), von den „schwingenden Bewegungen des Oberkörpers“ (ebd.) resp. von der „Körperausrichtung“ (ebd., 167) spricht. Nur in einem Abschnitt, der sich mit einem Aspekt der Interpretation beschäftigt, wird der Körper nicht als funktionierender Gegenstand instrumentalisiert, wenn „die grauenhafte Doppelung von noch bestehender körperlicher/äußerer Stärke des Tieres“ (ebd., 169) erwähnt wird. Alle hier aufgeführten Verweise auf den Körper stehen im Kontext der „Adaption in poetischer DGS“. In den Überlegungen zur LBG/DGS-Version erfährt der Körper überhaupt keine Erwähnung.
Fischers Schlussgedanke in ihrem Text von 2009 „The body is the heart of sonett 130, it is the core of sign languages – of all languages“ wird in ihrem Text von 2011 nicht erneut aufgegriffen. Nur implizit ist das Dilemma erkennbar, in dem sich die Panther-Übersetzung befindet – ein Dilemma, das sowohl etwas mit dem Gedicht selbst als auch mit seiner körperlichen Inszenierung in Gebärdensprache zu tun hat. Der Umgang der Arbeitsgruppe um Fischer mit diesem Dilemma bestand darin, eine erste LBG/DGS-Version zu erstellen, deren Aufgabe es war, die Semantik des Textes zu übermitteln, und eine zweite experimentelle CA-Version, deren Aufgabe in der Vermittlung des poetischen Gehalts bestand, der sich in der Mimesis der von Goldschmidt ausgeführten besonderen Gebärdensprache zeigte.
Es stellt sich natürlich die Frage, weshalb die Körperlichkeit, die in den Ausführungen der Autorinnen nur der poetischen Übersetzung von Rilkes Panther zugeschrieben wurde, nicht auch in der LBG/DGS-Version zu beobachten war, oder anders: Worin unterscheidet sich die Körperlichkeit von LBG und DGS? Bevor diese Frage beantwortet wird, ist es jedoch notwendig, auf eine weitere Besonderheit von Gebärdensprachen hinzuweisen: die Bildhaftigkeit von Gebärdenzeichen, „the imagistic character of sign languages“ (Fischer 2009, 598).
In der LBG/DGS-Version orientiert sich Kollien bei der Übersetzung wortgenau am Originaltext und führt konzentriert in den LBG-Teilen eine exakte Wort-Gebärde-Übersetzung von jeweils zwei Zeilen aus, der dann eine DGS-Übersetzung der gleichen Zeilen folgt. Diese Übersetzungsleistung ermöglicht einen genauen Einblick in die jeweilige Gebärde und ihren ikonischen Charakter:
LBG: SEIN – BLICK – IST – VOM – VORÜBERGEHN – DER – STÄBE – SO – MÜD – GEWORDEN – DASS – ER – NICHTS – MEHR – HÄLT
DGS: LAUFEN – STÄBE – VORBEIZIEHEN – BLICK VORBEIZIEHEN – MÜDE – BLICK INS LEERE
Während die Bildhaftigkeit der LBG-Gebärden durch die Anbindung an den deutschen Ursprungstext in den Hintergrund tritt, treten die Bilder in der DGS-Version deutlich hervor: die geschmeidigen Schritte des Panthers an den vorbeiziehenden Gitterstäben, sein müder ins Leere gehende Blick.
In der CA-Version verdichten sich die Bilder zu einem einzigen Bild einer im Käfig hin- und herlaufenden Großkatze, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Zwar zeigen sich auch in der CA-Version Reste des Semantischen entsprechend der Interpretation der Arbeitsgruppe „Gefangenschaft“ (vorbeiziehende Gitterstäbe), „Kampf“ (Schläge gegen die Gitterstäbe) und „Seelentod“ (etwas dringt in die Augen des Tieres), der Fokus der Übersetzung liegt jedoch auf der Darstellung des Bildes eines gefangenen Tieres.
Das oben erwähnte Dilemma, in dem sich die Arbeitsgruppe befand und dem sie mit der Entscheidung für zwei Übersetzungen zu begegnen versuchte, zeigt die Schwierigkeit, sich nicht entscheiden zu können für eine Version, die sich an den propositionalen sprachlichen Regeln des Deutschen (hier in der Verwendung von LBG) und der DGS als einem regelgeleiteten Sprachsystem orientiert resp. für eine Version, die einer „Logik der Bilder“ folgt, einer Logik „der konsistente[n] Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln. Und erläuternd füge ich hinzu: Diese Logik ist nicht-prädikativ, das heißt nicht nach dem Muster des Satzes oder anderer Sprachformen gebildet. Sie wird nicht gesprochen, sie wird wahrnehmend realisiert“ (Boehm 2004, 28f.).
Es sind also mehrere Aspekte, die es beim Thema Übersetzen literarischer Texte in und aus Gebärdensprachen zu bedenken gilt. Zum einen sind es Aspekte der Referenzialität, der Materialität sowie der Performativität einer verkörperten Sprache. Zum anderen ist es der Aspekt der Bildhaftigkeit von Gebärdenzeichen.
Die Inszenierungen sowohl der DGS- und ASL-Übersetzungen des 130. Sonetts als auch der LBG-, DGS- und experimentellen CA-Übersetzung des Panthers sind, was Referenzialität, Materialität und Performativität betrifft, vom linguistischen Impetus der am Projekt Beteiligten geprägt. Darauf verweisen nicht nur der neutrale Hintergrund (beim Panther sind vor dem blauen Hintergrund noch die Schatten eines Gitters angedeutet), der von Ablenkungen ungestört den Blick ganz auf die Darsteller ermöglichen soll, die in dunkler Kleidung ähnlich der, wie sie von Gebärdensprachdolmetschern erwartet wird, einen deutlichen Kontrast ermöglichen, um Handformen, -stellungen und -bewegungen sowie Mimik gut erkennen zu können. Dolmetschern und den beiden Darstellern fallen eine vergleichbare Aufgabe zu: Der gleiche neutrale Hintergrund, das gleiche dunkle Hemd, das sie tragen, wollen zeigen, dass individuelle Erkennbarkeit vermieden werden soll zu Gunsten ihrer medialen Rolle als neutrale ‚Übersetzungswesen‘. Die Kameraeinstellung ist auf den Oberkörper des Gebärdenden gerichtet: „Their shaping, their orientation and their position and movement in what is called the signing space in front of the signer’s upper body all constitute the components to form the signed ‚words‘ (the lexems)“ (Fischer 2009, 598).
Die Filme sind in einer für Lehrbücher typischen Ästhetik produziert worden, die Benutzern von Gebärdenlexika und Lehrvideos vertraut sind. Wie bei Filmen dieser Art üblich beruht die Auswahl der Darsteller auf ihrer nachweislichen Gebärdensprachkompetenz. Und wie das bei Lehrvideos zu erwarten ist, wird dieser Nachweis hervorragend erbracht. Konzentriert reproduzieren Goldschmidt und Kollien den englischen resp. die deutschen Texte der beiden Gedichte in LBG, DGS und ASL. Und auch die experimentelle CA-Version erfüllt alle Ansprüche, die die drei Gebärdensprachlinguistinnen an eine experimentelle CA-Version stellen. Unter dem Gesichtspunkt von Performativität entsprechen die Filme der Vorgabe von Lehrfilmen: konzentriert bei der Präsentation der Gedichte und geprägt von starker Körperbeherrschung. Der bei Mersch mit Performativität verbundene Gedanke, „daß wir unsere Symbole nie vollständig in der Hand halten, daß wir nirgends über sie zu herrschen oder mit ihnen frei zu spielen vermögen, daß vielmehr ihrer Anwesenheit eine Macht entspringt, die von unseren Verständnissen weder besiegelt noch ganz umfaßt werden kann“ (Mersch 2005, 52) ist in den hier beschriebenen Filmen nicht zu beobachten.
Der sorgfältige und langsame Vortrag sowohl des 130. Sonetts als auch des Panthers ermöglichen es, die Präzision der Ausführung der Gebärdenbilder wahrzunehmen. Beim Panther ist die Übersetzung in den LBG-Teilen der textlichen Referenz geschuldet, die der Bildhaftigkeit wenig Raum gibt, während die DGS- und ASL-Teile deutlich Gebärdenbilder zeigen. Die Übersetzung der poetischen Version des Rilke-Gedichts verdichtet sich zu einem einzigen Bild. Doch wie sind Gebärdenbilder zu denken?
Logik der Bilder
Nach Boehm gehört die Frage, wie Bilder funktionieren, zu den „großen intellektuellen Herausforderungen der Gegenwart“ (Boehm 2004, 30), die eine neue Verhältnisbestimmung des Bildes zur Sprache voraussetzt, in der das Bild nicht länger der Sprache unterworfen ist, „vielmehr den Logos über seine eingeschränkte Verbalität hinaus, um die Potenz des Ikonischen erweitert und ihn dabei transformiert“ (ebd.).
Um das Denken der Bildhaftigkeit von Gebärden zu konturieren, stellt Boehm drei Fragen, mit denen er sich seinem Begriff einer „Logik der Bilder“ zu nähern versucht: „(1) Was meinen wir, wenn wir vom ‚Bild‘ reden? (2) Warum dient Sprachkritik dem Verständnis des Bildes? (3) Was heißt: Logik der Bilder?“ (ebd.).
(1) Was meinen wir, wenn wir vom ‚Bild‘ reden?
Boehm nennt das Bild das „Paradox einer realen Irrealität“ (ebd.), womit er den seltsamen Status des Bildes zu erklären versucht, wonach es sich beim Bild um ein Ding und ein Nicht-Ding handelt, ein Ding im Sinne seiner Materialität als Träger von Farbe auf einer Leinwand oder Holz oder Papier, oder, wie bei Gebärdenzeichen, als menschlicher Körper; und ein Nicht-Ding, an denen sich die „projektive Kraft der Wahrnehmung […] ikonisch entzündet“ (ebd., 31) als einer Sicht, eines Anblicks, eines Sinns. „Das ‚Ikonische‘ beruht mithin auf einer vom Sehen realisierten ‚Differenz‘“ (ebd., 32).
Nach Boehm wird in der ikonischen Differenz etwas Abwesendes sichtbar; und er zitiert Merleau-Ponty, der vom Bild schrieb, „dass es einem Abwesenden sein Fleisch leiht und ihm damit Präsenz verschafft“ (ebd.) und dadurch Macht ausübt: „es öffnet die Augen, es zeigt“ (ebd.).
(2) Warum dient Sprachkritik dem Verständnis des Bildes?
Die sprachkritische Funktion des Bildes wurde bereits bei der „Fliegengeschichte“ von Ace Mahbaz deutlich, die in ihrer gebärdeten Fassung vor Bildwitz und Lebendigkeit sprühte, während die lautsprachliche Übersetzung ein albernes Translat hinterließ, da die Übersetzerin den vermeintlichen semantischen Vorgaben einer Übersetzung in „vollständigen Sätzen“ nicht entkommen konnte oder wollte. Gewiss, sie übersetzte die gebärdensprachlichen Lexeme sorgfältig ins Deutsche, musste sich damit jedoch ganz den Vorgaben der deutschen Grammatik unterwerfen, wodurch die prosodischen und onomatopoetischen Anteile ihrer Übersetzung wie eine Karikatur des Originals wirkten. Dabei ist der Übersetzerin kein Vorwurf zu machen; ihr Vorgehen entspricht einem Verständnis von Übersetzen, dem auch Kollien und Goldschmidt beim Übersetzen des 130. Sonetts in DGS und ASL folgten – einem Verständnis, das vom Primat der Grammatik der jeweiligen Zielsprache geleitet ist und einer Tradition folgt, die der Bildhaftigkeit und damit der Mehrdeutigkeit und „Unzuverlässigkeit“ der Gebärden misstraut und die Klarheit und Eindeutigkeit der Worte bevorzugt. Für die Übersetzungen von Ataman, Goldschmidt und Kollien gilt, dass die Gebärdenbilder gleichsam Platzhalter einer Logik des Wortes sind, „in der das Ikonische an den Fäden eines unsichtbaren Textes geführt“ (ebd., 35) wird.
In diesem Verständnis sind die Bilder der Gebärdensprache Lexeme und werden als Substitute eines Sinns rezipiert. Boehm spricht in diesem Zusammenhang davon, dass es „Bildern keineswegs fremd (ist), Dienstleistungen zu erbringen“ (ebd.), und betont ihren illustrativen Charakter. „Die historisch erfolgreichste und am meisten verbreitete Bildpraxis ist zugleich auch die schwächste: Sie nimmt das Bild als Abbild in Gebrauch. Sie rechnet mit Sachen oder Sachverhalten, die sich dann auch noch in Bildern spiegeln“ (ebd., 35f.). Damit sind Bilder, auch die der Gebärdensprachen, in vollständige Abhängigkeit von Worten geraten.17
(3) Was heißt: Logik der Bilder?
Die DGS-Übersetzung von Rilkes Panther mit seinen vielen Bildern resp. in eine poetische CA, die sich zu einem einzigen Bild verdichtet, zeigt etwas von der Wirkweise des Ikonischen. Der Verlust semantischer Bezüge geht einher mit dem Gewinn von Mehrdeutigkeit und Sinnlichkeit, wie sie in der „experimentellen CA“ gut zu beobachten sind. Ganz gewiss haben sich die Bilder in der Interpretation von Kollien resp. hat sich das Bild von Goldschmidts Mimesis weit von den Worten des Rilke-Gedichts entfernt. „Wenn wir von Bildern […] sprechen, meinen wir eine Differenz, in der sich ein oder mehrere thematische Brennpunkte (Fokus), die unsere Aufmerksamkeit binden, auf ein unthematisches Feld beziehen“ (ebd., 40). Hier der Fokus auf eine gefangene Großkatze, die sich im Verständnis von Rilkes „sachbezogene[m] Sprechen“ (Müller 2004, 297) auf einem unthematischen Feld befindet. „Entscheidend für die Logik der Bilder ist aber nicht einfach dieser visuelle Befund, sondern darüber hinaus dessen kategoriale Implikate. Sie besagen, dass jedes Bild seine Bestimmungskraft aus der Liaison mit dem Unbestimmten zieht. Wir können gar nicht anders, als das Dargestellte auf seinen ihm vorstrukturierten Horizont und Kontext hin zu betrachten. Dieser aber gehört einer prinzipiell anderen kategorialen Klasse an“ (ebd.).
Die Differenz von visuellem Befund und dem „Unbestimmten“, dem „unthematischen Feld“ bezeichnet Boehm als „ikonische Differenz“ (ebd., 41). Es ist also nicht etwa die Differenz von Wort und Bild darunter zu verstehen, nicht die Residuen des Semantischen in den Gebärdenbildern der DGS-Übersetzung resp. in der poetischen CA-Übersetzung des Panthers, auf die ich hingewiesen habe, sondern eine Verortung des visuellen Befunds durch den Betrachter in einem von ihm neu zu bestimmenden Feld. Boehm spricht davon, dass dieser visuelle Befund „gleichsam zu uns zurückblickt“ (ebd., 40), wir mit ihm in einen Austausch treten, mit ihm kommunizieren und in diesem Prozess Sinn entsteht. „Für die Sinnentstehung ist allerdings entscheidend, im Bild den Akt des Sehens wieder zu beleben, der darin angelegt ist. Erst das gesehene Bild ist in Wahrheit ganz Bild geworden“ (ebd., 41, Herv. i. Orig.). Bildwerdung entsteht durch Sehen, Sehen wiederum begreift Boehm als das dem Menschen eigene Blickverhalten im Sinne eines wandernden Sichtfelds, das er auf das Ikonische hin überträgt. Insofern kann er sagen, dass das Bild erst im Akt der ikonischen Differenz, also im Akt der Wahrnehmung des visuellen Befunds und seiner Verortung in einem neu zu bestimmenden Feld durch den Betrachter seine Wahrheit entfaltet, und in dieser Konsequenz entfaltet sich für jeden Betrachter eines Bildes ein eigener Sinn. „Es ist ein nicht-prädikativer Sinn, dem kein sprachlicher Logos vorausgeht, an den freilich alle erforderlichen sprachlichen Diskurse, Ikonologien oder Interpretationen anschließen“ (ebd., 43). Deutlich wird in diesen Ausführungen Boehms Verständnis von Bild, das sich vom linguistischen Verständnis eines Gebärdenbildes vollständig unterscheidet, in dem das Bild als Abbild immer einem ihm vorausgehenden sprachlichen Logos nachgelagert ist.
Fazit
Die Übersetzungspraxen aus dem Gehörlosen- und Gebärdensprachtheater sowie von Poesien haben ein Verständnis von Laut- und Gebärdensprache offenbart, das vor allem dem referenziellen Gehalt von Sprache geschuldet ist. Bei Übersetzungen schriftlich fixierter Texte in Gebärdensprache, aber auch gebärdeter Texte in gesprochene Lautsprache, wird in der Regel dem Umstand wenig Bedeutung beigemessen, dass es sich hier nicht nur um die Übersetzung aus einer Ursprungs- in eine Zielsprache, sondern gleichzeitig auch um seine körperliche Inszenierung handelt, um eine „Setzung“ (Mersch) resp. performance. Besonders auffällig wurde dieses Desiderat im Kontext der Übersetzungen des 130. Sonetts sowie des Panthers, die in ihren theoretischen Reflexionen zwar von der Körperlichkeit von (Gebärden)Sprachen schrieben, in der praktischen Umsetzung jedoch eine möglichst körperlose Inszenierung produzierten. Allein die Panther-Mimesis von Stefan Goldschmidt hatte tatsächlich den Körper im Blick. Es erweckt geradezu den Anschein, als beschädigte eine Inszenierung von Körperlichkeit das zu übersetzende Kunstwerk, während der Anspruch von Körperlosigkeit ein Garant der ‚Reinheit‘ des Translats darstellen würde. Dieser Anspruch erscheint mir absurd angesichts einer Sprache, die als Inbegriff einer verkörperten Sprache zu sehen ist. Absurd erscheint aber auch eine Lautsprache, die ihren körperlichen Ursprung vergessen zu haben scheint.
Zum Abschluss dieses Textes möchte ich auf eine Gebärdenpoesie hinweisen, die die Besonderheiten von Gebärdensprachen, was ihre Referenzialität, Materialität und Performativität als auch ihre Bildhaftigkeit betreffen, auf eine besonders lebendige und einprägsame Weise präsentiert, und die mir aus diesem Grund etwas Vorbildhaftes im Umgang mit Übersetzungen literarischer Texte in und aus Gebärdensprachen zu haben scheint, wobei es keiner weiteren Erwähnung bedarf, dass die Übersetzung jedes Gedichts eine ihm eigene angemessene Form finden muss. Vorbildhaft ist beim Flying Words Project jedoch ein Umgang mit Laut- und Gebärdensprache, der die Besonderheiten der jeweiligen Sprache auf außergewöhnliche Weise würdigt. Dieser Umgang ist es, den ich mir wünsche, wenn es darum geht, gebärdete Gedichte in Lautsprache und lautsprachliche vorgetragene Gedichte in Gebärdensprache zu übersetzen. Beides gehört zusammen, wobei das Original immer in einem spannungsvollen Verhältnis zur Übersetzung steht.
Poetry18 ist eine Poesie des Flying Words Project (FWP)19, die von Peter Cook gebärdet und von Kenny Lerner in Lautsprache übersetzt wird und die aus einer Ansammlung von Bildern besteht, die in keinem narrativen Zusammenhang miteinander stehen, den Gegenstand „Poesie“ jedoch in einer Weise zeigt, der die ganze Welt durcheinander zu wirbeln vermag. Peter Cook zeigt diese Bilder in Gebärdensprache, während Kenny Lerner aus dem Off lautsprachliche Hinweise gibt, die dabei helfen, die Bilder zu deuten, ähnlich dem Verfahren, das Oya Ataman beim Übersetzen des Beitrags von Mila Hergert beim Berliner Poetry Slam angewandt hat: „Poetry is the shut“, „It’s the open window“, „It’s the flame“, „It’s loaded into the magnum“, „It’s the painter and the portrait“, „It’s a forest of trees“, „A blazing sun, a red tailed falcon“, „It’s a butterfly“, „A tree“, „A leave falling leaves“, „It’s the bomb doors opening, the mushroom clouds, the nuclear winds“.
Das Gedicht des FWP konfrontiert den Betrachter und Hörer mit einer Fülle „visueller Befunde“. Im ersten Bild einen Revolver, eine Revolverkugel, einen Ball oder mehrere Bälle, schließlich eine Explosion – visuelle Befunde, die aus den visuellen Medien vertraut sind. Überlagert ist das Ganze von einer explodierenden Hand. Diese explodierende Hand ist das Bild, das Poetry zum Ausdruck bringen will. Das Bild einer explodierenden Hand zeigt etwas von der vernichtenden Kraft, die diese Vorstellung von Poesie beinhaltet. Anders als bei Boehm, der von einem „unthematischen Feld“ ausgeht, auf das der visuelle Befund zu beziehen ist, ist hier ein abstraktes Feld der Poesie vorgegeben, auf dem die visuellen Befunde verortet werden müssen: Bilder von Bedrohung, Vernichtung, Tod, aber auch von Raumkapseln, Sternen und Kollisionen. Bilder von Poesie als einem Pistolenschuss, der dich mitten im Körper trifft.
Cook zeigt einen Maler an der Staffelei, der sich in einer wilden Auseinandersetzung mit seinem Bild befindet und es schließlich zusammenknüllt und ins All befördert. Es sind Wälder unter einer glühenden Sonne, über die ein Falke seine Kreise zieht; ein Schmetterling, der sich auf seinen Kopf setzt; das Blatt eines Baums, das zu Boden schwebt und von einem Fluss weggetragen wird. Schließlich zeigt Cook das Bild von Poesie als einer aus dem Flugzeug fallenden Atombombe, die ihren Atompilz entfaltet und einen Sturm entfacht, der alles zerstört – auch die Poesie selbst. Cooks Performance zeigt noch sehr viel mehr, was sich nicht übersetzen lässt, und Kenny Lerner probiert auch gar nicht, dafür Worte zu finden. Es sind lange Momente in der Präsentation, in denen nur die Geräusche zu hören sind, die Cook beim Gebärden seiner Bilder auf der Bühne macht.
Lerners Übersetzung entspricht der Vorstellung literarischen Übersetzens von Walter Benjamin und Rudolf Pannwitz, den ich eingangs zitiert habe. Lerner verenglischt nicht die Gebärdensprache Cooks, sondern vergebärdensprachlicht sein eigenes Englisch. Das gelingt ihm durch die Übersetzung von Cooks Bildern unter Missachtung der englischen Syntax. „Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen. Das vermag vor allem Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des Originals, Wörtlichkeit die Arkade.“ (Benjamin 1921/1991, 18) Lerner hat nicht den Anspruch einer linguistischen Übersetzung. Wie ich eingangs literarisches Übersetzen bezeichnet habe, lotet er mit der Vergebärdenspachlichung des Englischen die Ränder seiner Sprache aus und erreicht auf diese Weise eine poetische Übersetzung – und nur darum kann es beim Übersetzen literarischer Texte in und aus Gebärdensprachen gehen.
Fußnoten
1 Den Begriff der „ikonischen Differenz“ hat Gottfried Boehm geprägt (vgl. Boehm 1994, 29ff.).
2 Was damit gemeint ist, hat Walter Benjamin in seinem Übersetzeraufsatz ausgeführt, der die Vorstellung von Übersetzen im Sinne einer Dienstleistung scharf kritisiert, vielmehr diesen Vorgang als Erweiterung von Sprache begreift. In diesem Sinn zitiert er aus Rudolf Pannwitz’ Text Die Krisis der europaeischen Kultur (1917): „unsre übertragungen auch die besten gehen von einem falschen grundsatz aus sie wollen das indische griechische englische verdeutschen anstatt das deutsche zu verindischen vergriechischen verenglischen. sie haben eine viel bedeutendere ehrfurcht vor den eigenen sprachgebräuchen als vor dem geiste des fremden werks.“ (Pannwitz in Benjamin 1921/1991 IV.1, 20)
3 Der Diener zweier Herren. Regie: Zoe Xanthopolou. Produktion Deutsches Gehörlosen-Theater, München 2016–2018.
4 Ein Sommernachtstraum. Regie: Michaela Caspar. Produktion Possible World e.V. in Kooperation mit dem Ballhaus Ost. Berlin 2018.
5 Sehen statt Hören vom 31.03.2018 widmet der Produktion und Entstehung des Sommernachtstraums eine ganze Sendung und befragte die Regisseurin und die an der Produktion beteiligten Schauspieler. Ausführlich wird hier dargestellt, wie viel Mühe die gebärdensprachliche Übersetzung des Shakespeare-Textes in Anspruch genommen hat. Weshalb es jedoch gerade der Sommernachtstraum und kein anderes Stück war, und mit welchem Konzept eine interkulturelle Theatergruppe den Sommernachtstraum inszenierte, blieben unerwähnt.
6 Vgl. https://www.possibleworld.eu (10.06.2019).
7 Im Zusammenhang meiner Ausführungen zur Performativität des sprachlichen Zeichens gehe ich auf den Aspekt des Ereignishaften noch einmal ein (vgl. S. •••).
8 Es bleibt zu ergänzen, dass sich Verstehen hier allein auf den referenziellen Gehalt des sprachlichen Zeichens bezieht. Ungeachtet dessen ist der Wunsch, die Dinge verstehen zu wollen, die sich auf der Bühne ereignen, nach jahrelangem Erdulden sprachlicher Mischformen nachvollziehbar. Es ist jedoch auffällig, dass nach einer Zeit des Experimentierens am sprachlichen Rand, wie es bspw. Possible World in Frühling Erwache (Berlin 2008) gezeigt hat, so etwas wie ein roll back zu konventionellen Theaterpraxen zu beobachten ist.
9 Das IVT war bereits 1976 von Joël Liennel mit dem Anspruch gegründet worden, Theaterproduktionen in LSF auf die Bühne zu bringen. Mit der Einladung, Thierry Roisin als Regisseur für die Antigone zu gewinnen, erhoffte man sich neue Impulse für die Theaterarbeit. Diese „neuen Impulse“ wurden dann jedoch für die Schauspieler des IVT zu einer enormen Herausforderung.
10 „Je pense que c’est du théâtre entendant.“ (Autour d’Antigone 1995, 46).
Die Feststellung, wonach es sich bei der Inszenierung um „Theater der Hörenden“ handelt, ist insofern nachvollziehbar, als Roisins Interesse vor allem darin bestand, mit einer gebärdensprachlichen Inszenierung einen neuen Blick auf den bekannten Klassiker zu ermöglichen. Das Festival von Avignon ist in Frankreich jedes Jahr das Theaterereignis, bei dem innovative Inszenierungen einem Publikum gezeigt werden, das über ein hohes Maß an Theatererfahrungen verfügt. Ganz sicherlich verfügt das taube Publikum nicht über solche Erfahrungen. Die Möglichkeiten jedoch, die sich für die gehörlosen Schauspieler eröffneten, haben nur wenige von ihnen erkannt, darunter Emmanuelle Laborit, die in der Arbeit Roisins eine Aufwertung der Gebärdensprache sah (vgl. Autour d’Antigone 1995, 55; vgl. Vollhaber 2012, 406).
11 Deaf Jam. Regie: Judy Lieff. 70min. USA 2011.
12 Vgl. Anm. 10.
13 Die Übersetzungen des 130. Sonetts von Simon Kollien (DGS) und Stefan Goldschmidt (ASL) sind auf einer DVD einsehbar, die der Publikation Fischer 2009 beigelegt ist.
14 Das Teilprojekt von Fischer bei „SignLibrary“ war gleichzeitig verbunden mit dem Bildungsprojekt „DaZiel“ (Deutsch als Zielsprache für gehörlose ArbeitnehmerInnen, Fischer 1999–2008, http://archiv.gwin.gwiss.uni-hamburg.de/daziel/; 10.06.2019). Die von Stefan Goldschmidt angefertigte Übersetzung in experimenteller CA ist unter http://archiv.gwin.gwiss.uni-hamburg.de/daziel/filme/film_40/film_40.htm einsehbar, die von Simon Kollien angefertigte LBG/DGS-Version unter http://archiv.gwin.gwiss.uni-hamburg.de/daziel/filme/film_41/film_41.htm (10.06.2019).
15 Die Interpretation von Fischer, Dietrich & Rossow mit ihrer Dreiteilung „Gefangenschaft“,„Kampf“ und „Seelentod“ steht in einem problematischen Verhältnis zum Konzept des Ding-Gedichts, zu denen Rilkes „Neue Gedichte“ und damit auch Der Panther gezählt werden. „In der Entwicklung des Dichters [Rilke] stellen sie [die Neuen Gedichte] einen grundsätzlichen Neuanfang dar, einem im Verhältnis zu der ekstatischen Subjektivität des Stunden-Buch […] geradezu schroffen Übergang zum sachbezogenen Sprechen (‚sachlichen Sagen‘), der den Dichter mit seiner neuen – von der bildenden Kunst beeinflussten – poetologischen Orientierung zu einem der bedeutendsten Vertreter der literarischen Moderne macht“ (Müller 2004, 296). Die Neuen Gedichte sind in einer Zeit entstanden, in der Rilke als Sekretär von Auguste Rodin arbeitete und sich mit ihm in engem freundschaftlichen Austausch befand – Rodins Arbeitsweise prägte sein eigenes Schreiben. „Durch das konzentrierte, durchdringende Schauen, wird das wahrgenommene Ding zum ‚Kunst-Ding‘, das einen höheren Wirklichkeitsgrad hat als das reale Ding, eine ‚Insel, überall abgelöst von dem Kontinent des Ungewissen‘ (Rodin)“ (ebd., 297f.).
16 In der Gebärdensprachlinguistik wiederholt sich ein Vorgang, den Sybille Krämer als „Zwei-Welten-Modell“ (Krämer 2001, 9) in der Sprachwissenschaft mit der Unterscheidung beschrieben hat, „zwischen einer ‚reinen‘ Sprache bzw. Kommunikation, verstanden als ein grammatisches oder pragmatisches Regelsystem und dessen Realisierung bzw. Aktualisierung im jedesmaligen Sprechen und Kommunizieren“ (ebd.). Die Realisierung von Sprache im Sprechen bedeutet immer das Verletzen grammatikalischer Regeln der Sprache und wird als Differenz von Kompetenz und Performanz beschrieben. Es bedeutet aber auch, dass beim Sprechen immer etwas hinzukommt, was das sprachwissenschaftliche Inventar nicht benennt und das ich hier mit Materialität und Performativität beschreibe. Eine am „grammatischen oder pragmatischen Regelsystem“ orientierte Gebärdensprachlinguistik macht darauf aufmerksam, von woher für sie in diesem Zusammenhang die größte Gefahr droht: vom Körper, dessen schwer zu beherrschende Eigenständigkeit seine Disziplinierung erforderlich macht. Das mächtigste Instrument seiner Disziplinierung besteht darin, seine Bedeutung für die gebärdensprachliche Realisierung zu leugnen resp. ihm dabei eine rein technische Funktion zuzuschreiben. Der Umgang der Gebärdensprachlinguistik mit dem Körper des Gebärdenden entspricht dabei einer Entmaterialisierung, wie sie die an einem „intellektualistischen Sprachbild“ (ebd., 10) orientierte Sprachwissenschaft praktiziert. „Nicht nur die Sprache wird entmaterialisiert, sondern auch die Sprecher selbst. So wie die Stimmlichkeit als Spur des Körpers im Sprechen kein für die Sprache wesentliches Attribut ist, so ist auch die Körperlichkeit der Sprecher kein für die Sprachlichkeit konstitutives Phänomen. Saussure rückt Sprecher und Schachspieler in eine Perspektive, bei Chomsky sind Sprecher kognitive Systeme bzw. Grammatiker, bei Habermas sind sie formalrational agierende Personen. Genauso, wie die stimmliche, schriftliche, gestische, technische Verkörperung der Sprache in ihrem jedesmaligen Gebrauche für die Sprache selbst marginal ist, so bleiben die Körper der Sprechenden als leibhaftige Voraussetzung ihrer Rede, als begehrende Instanz und geschlechtliche Differenz im Sprechen ausgeblendet“ (ebd., 101).
17 Die Dekonstruktion dieser Abhängigkeit von Worten hat Jolanta A. Lapiak zum Thema ihrer Gebärdenpoesie Deconstruct W.O.R.D. gemacht, die sie 2010 beim Edmonton Poetry Festival gezeigt hat. (https://www.lapiak.com/index.php?id=16; 10.06.2019) (vgl. dazu auch Lutzenberger 2014).
18 https://www.youtube.com/watch?v=JnU3U6qEibU (10.06.2019).
19 Das Flying Words Project ist ein US-amerikanisches Künstlerduo, das aus dem tauben Peter Cook und dem hörenden Kenny Lerner besteht und seit Mitte der 1980er-Jahre bei gemeinsamen Auftritten Poesie in Laut- und Gebärdensprache zeigt (vgl. http://www.fwp1.com/FWP/Welcome.html (10.06.2019)).
Literatur
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Benjamin, Walter (1921/1991): „Die Aufgabe des Übersetzers.“ Werkausgabe Bd. IV.1. Frankfurt a.M., 9–21.
Boehm, Gottfried (1994): „Die Wiederkehr der Bilder“. In: Ders. (Hg.): Was ist ein Bild? München, 11–38.
Boehm, Gottfried (2004): „Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder“. In: Christa Maar & Hubert Burda (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Köln, 28–43.
Fischer, Renate (2009): „Shakespeare’s Sonnet 130 in Two Sign Languages“. In: Manfred Pfister & Jürgen Gutsch (Hg.): William Shakespeares Sonnets for the First Time Globally Reprinted. A Quartercentenary Anthology (1609–2009). Dozwil, 597–601
Fischer, Renate; Caren Dietrich & Melanie Rossow (2011): „Rainer Maria Rilkes Gedicht ‚Der Panther‘ in Deutscher Gebärdensprache. Einblick in die Entstehung zweier Translate“. In: Das Zeichen 87, 162–173.
Krämer, Sybille (2001): Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt
Lakoff, George & Mark Johnson (2004): Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. 4. Aufl. Heidelberg.
Lutzenberger, Hannah (2014): „Buchstabe – Wort – Text – Sprache. Eine Untersuchung der Strukturalität einer manuellen poetischen Sprache im Hinblick auf ihre dekonstruktive Verwendung in Jolanta Lapiak Deconstruct W.O.R.D.“. Universität Hamburg [Bachelorarbeit; unveröff.].
Mersch, Dieter (2005): „Paradoxien der Verkörperung. Zu einer negativen Semiotik des Symbolischen“. In: Frauke Berndt & Christoph Brecht (Hg.): Aktualität des Symbols. Freiburg, 33–52.
Müller, Wolfgang G. (2004): „Neue Gedichte / Der Neuen Gedichte anderer Teil“. In: Manfred Engel (Hg.): Rilke-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart, 296–318.
Tabbert, Dina & Thomas Zander (1991): „Erstes Gebärdensprach-Festival in Berlin 1991“. In: Das Zeichen 18, 504–505.
Ugarte Chacón, Rafael (2015): Theater und Taubheit. Ästhetiken des Zugangs in der Inszenierungskunst. Bielefeld.
Vollhaber, Tomas (2012): „Gebärdensprachkunst. Fremdheit erfahrbar machen“. In: Eichmann, Hanna; Martje Hansen & Jens Heßmann (Hg.): Handbuch Deutsche Gebärdensprache. Sprachwissenschaftliche und anwendungsbezogene Perspektiven. Seedorf 399–423.
Vollhaber, Tomas (2018): „Leere Signifikanten. Anmerkungen zum Sommernachtstraum der Theatergruppe possible world“. In: Das Zeichen 109, 308–323.