Schweres Sprechen



Was ich meiner schwerhörigen Schwester
sagen würde

Schrift Essay von Dilek Güngör

Fremd heißt unbekannt. Wir kennen uns nicht und kennen uns doch. Wir haben zusammengelebt. Da kennt man sich. Wir waren beide Kinder und du warst wie mein Kind. Meine Schwester. Elf Jahre jünger, ich die Große, du die Kleine. Ich habe dich gehütet und im Kinderwagen mitgenommen, wenn ich auf den Spielplatz ging. Dich vom Kindergarten abgeholt. Hingebracht. Manchmal in die Schule begleitet, das aber selten. Dich auf der Schaukel angeschubst, wo ich doch viel lieber im Freibad bei meinen Freunden gewesen wäre. Die hatten auch kleine Geschwister, aber auch Mütter, die tagsüber zuhause waren und nicht in aller Früh in die Fabrik fuhren. Sie hatten Schaukeln im Garten, da konnte man die Kleinen rausschicken und aus dem Küchenfenster zusehen. Sie mussten ihre Geschwister nicht mit zum Schwimmen nehmen. 

Jetzt sind wir erwachsen und ich sage nicht mehr, meine kleine Schwester. Ich sage, meine jüngere Schwester. Als hätte ich noch eine Ältere.
Längst wohnen wir nicht mehr in einem Haus. Ich bin ausgezogen, da warst du keine zehn. Und dass zwischen uns immer mehrere hundert Kilometer lagen, hat uns nicht gutgetan. 
Glatt gelogen. An den Kilometern liegt es nicht. Es liegt daran, dass wir nicht im Gespräch sind. Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll. Kommunizieren ist so ein hässliches Wort. Was ich meine ist, dass mein Wort nicht zu dir gelangt und deins nicht zu mir. Sprechen ist für die, die hören nicht schwierig, aber dass die Worte zusammenkommen, das ist schwer. Was ist ein Wort? Muss man es sprechen? Muss man es schreiben? Lesen? Man kann es auch mit den Händen bilden, mit den Augen, mit dem Gesicht, mit dem ganzen Körper: Gebärdensprache. 

Ich weiß, dass du das kannst. Gebärden. Sagt man das noch? Gibt es inzwischen ein neues Wort dafür? Ich habe den Wandel vieler Worte mitverfolgt. Zu unseren Eltern sagte man, als ich klein war und du noch nicht geboren: Gastarbeiter. Sie wurden zu ausländischen Mitbürgern. Zu Deutschen mit türkischem Pass. Zu Deutschen mit Migrationshintergrund. Oder mit türkischen Wurzeln. Ich glaube, das ist der letzte Stand. Ich soll nicht gehörlos sagen, weil es das Fehlen des Gehörs betont, lese ich, taub sei das treffendere Wort. Das habe ich nicht gewusst. Wie ich so vieles nicht gewusst habe über Dich. Spät erst habe ich gesehen, dass du gebärden kannst. Das Wort befremdet mich. Gebärde dich nicht so. Wie der sich immer gebärdet! Schön klingt nicht das nicht. 

Als du ganz klein warst, zehn Monate, als du deine ersten Hörgeräte bekamst, hässlich beige Apparätchen, die laut piepten, wenn man sie mit der Hand verdeckte, mit einer Mütze, mit einem Telefonhörer. Beim Baden durftest du sie nicht tragen, darum berührte ich dich an der Schulter, wenn ich dir beim Haarewaschen etwas sagen wollte: Raus jetzt. Du bist schon ganz aufgequollen.“
Allen, die fragten was das Kind da am Ohr habe, sagte ich: „Meine Schwester trägt Hörgeräte.“ 
„Kann sie sprechen?“ 
„Ja“, sagte ich jedesmal. „Logisch.“

Was gar nicht logisch war.  Denn wir hatten keine Ahnung vom Hören und vom Sprechen. Nicht hören hieß für uns nicht sprechen.
Der Arzt hatte unsere Mutter gewarnt: Verwirren sie das Kind nicht mit Zweisprachigkeit.“ Wir sollten nur eine Sprache mit dir sprechen und natürlich war klar, welche das sein würde. Deutsch, denn wer braucht schon Türkisch? Unsere Mutter, das wird dich nicht wundern, sprach trotzdem Türkisch mit dir. Unser Vater auch, wenn er denn mal was sagte. Und ich Deutsch. Ich sprach ja kein Türkisch mehr, wenn es sich vermeiden ließ. Ich wollte nicht Türkisch sein, nicht gefragt werden, woher ich komme, nicht gelobt werden für mein Deutsch. Ich wollte sein wie alle und nicht immer die Extrawurst. Wobei ich Wurst gerne aß, Lyoner und Bierschinken, aber selbst das war ein Problem.
„Ich dachte, ihr dürft kein Schwein.“ 
Bist du das auch gefragt worden in der großen Pause?
Du hast dann nicht nur Deutsch, du hast auch Türkisch gelernt, dann Englisch und die deutsche Gebärdensprache. Wovon ich erst erfuhr, als ich dich mit den tauben Kindern in deiner Schule, ja, sprechen sah. Wussten das Mama und Papa, oder waren sie auch so überrascht wie ich?

Wir sprechen nicht miteinander, die ganze Familie im Funkloch. Mama nicht, die redet unentwegt und sagt zu allem etwas. Papa, der ist speziell. Ich konnte mal richtig gut mit ihm. Daran wirst du dich nicht erinnern, das mit uns hörte nämlich auf, als du so zwei oder drei Jahre alt gewesen sein musst. Als ich klein war, bin ich sonntags zu ihm unter die Decke gekrochen, weil er immer schon wach war, so wie ich. Wir haben zusammen auf dem Sofa gelegen und „Dick und Doof“ gekuckt. Wir haben uns gekitzelt und wir haben gekämpft, wir haben Mamas Röcke und BHs angezogen, wenn sie bügelte und uns vor dem Spiegel totgelacht. Wirklich. Wenn man uns beide jetzt so sieht so still, so verhalten, so verhuscht, dann glaubt man das nicht. Ich kann dir nicht sagen, wann es zu Ende gegangen ist. Vielleicht, als ich in die Pubertät kam. Das käme zeitlich hin. Vielleicht, als ich nicht mehr Türkisch sprach, und Papas Deutsch nicht mehr viel besser wurde. Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht. 

Papa und ich sprechen jetzt ohne Worte. Er bringt mir einen Teller aufgeschnittene Äpfel und Mandarinen, wenn ich fernsehe. Oder kauft Brezeln zum Frühstück. Er schiebt mir die Salatschüssel zu. Du magst das nicht, ich weiß, aber ich trinke gerne die Soße aus der Schüssel. So sprechen wir: mit Gesten. Stille Post, das haben wir früher oft gespielt, erinnerst du dich?

Ich mag Gesten, manchmal mehr als Worte. Ich mag auch Worte, aber ich suche nicht nach dem richtigen Ausdruck. Komisch, oder? Ich bin Schriftstellerin. Ich schreibe jeden Tag. Wörter. Und ich rede. So gerne und so viel, dass ich in der Schule viele Stunden vor dem Klassenzimmer stehen musste. „Dilek, raus. Du kannst doch nicht die ganze Stunde schwätzen.“ Konnte ich. Unsere Mutter kann es ja auch. Am allerliebsten aber ist mir das Unausgesprochene, ein Blick, eine Bewegung der Augenbraue, ein zuckender Mundwinkel. Ahnen und Spüren. Seit ich weiß, dass du deutsche Gebärdensprache kannst, achte ich bei den Nachrichten auf den Mann oder die Frau am Bildrand, die die Nachrichten in deutsche Gebärdensprache übersetzt. Mir ist das unangenehm und fremd, diese Bewegungen, der Mund, die Augen. Und auch das ist mir unangenehm, dass es mir unangenehm ist. 

Ich kann dir das alles schreiben, das ist kein Problem. Ein Geständnis auf Papier, easy. Aber sagen?
Ich hätte dich besuchen, mit dir sprechen können, dir ins Gesicht sehen können dabei. Das Sprechen fällt mir nicht leicht. Vorhin behauptete ich das Gegenteil. Und noch ein Widerspruch: Dass ich Übersetzen studiert habe. Englisch und Spanisch und Türkisch. Wie ich mich als Kind gewunden und gedrückt habe vor Situationen, in denen ich für Mama oder Papa dolmetschen, sollte. Zum Glück kam das selten vor. Schon am Telefon der Tante etwas ausrichten, den Nachbarn in Mamas Namen Bescheid sagen war eine Qual für mich. Schreiben kann man in aller Stille, ganz für sich, ohne Publikum. Die Reaktion kommt zeitversetzt. Wenn ich Monate später aus meinen Texten lese, vor Zuhörern, ist es fast so, als sei er nicht von mir. Ich kann meine Texte vorlesen, ohne mich dabei gemeint zu fühlen.

Du liest nicht gern. Auch unsere Eltern tun es nicht. Dabei sagten sie immer, „oku da, adam ol“ - Lies, damit etwas aus dir wird. Studiere, damit etwas aus dir wird. Oku bedeutet beides. Ihr seid immer dabei, wenn ich in Eurer Gegend Lesungen habe und furchtbar stolz – zumindest Mama, wie sie mich hinterher drückt und küsst. Papa und du? Ich weiß es nicht, ich glaube, ihr habt noch nie etwas dazu gesagt und ich nie gefragt. Still sitzen wir hinterher im Auto und fahren nach Hause, immer ist das Radio an. Vielleicht kannst du mit dem geschriebenen Wort nichts anfangen, der geschriebenen Literatur. Es gibt auch Literatur in Gebärdensprache. In deiner Sprache. Ist das richtig, wenn ich das so sage? Ich schick dir bei Gelegenheit mal ein Video. Ich habe mir schon ein paar davon angesehen. 
Zuerst fand ich es seltsam, und musste an dich denken und auch wieder daran, dass ich nicht einmal weiß, was du dir gerne anschaust.

Dann habe ich mir die Videos noch einmal angesehen, Poesie in Gebärdensprache. Ich sehe zu und rate wie ein Kind, was gemeint sein könnte, was die Hand, was das Gesicht, was die Augen sagen. Und als gäbe es eine Lösung im Rätselheft, lese ich die schriftliche Übersetzung, und gleiche sie ab mit dem, was ich verstanden habe. Eins zu Eins. Dabei gibt es kein Eins zu Eins. Wie schwierig das zu begreifen ist, habe ich in meinen Übersetzungsseminaren gelernt. „Klammert euch nicht an das Wort“, sagten die Dozenten und wir nickten und klammerten uns doch ängstlich ans Wort. An das Original. Dabei ist auch das auch eine Illusion. Die Gebärdensprachpoesie geht zunächst den Weg, den auch das geschriebene Wort geht: durch das Auge. Aber wo im Kopf wird sie verarbeitet? Was meinst Du? Dort, wo wir Bilder sehen? Wo wir Musik hören? Oder sie verstehen? 

Weißt du, wenn ich versuche, Bilder oder Gedanken in Worte zu übersetzen, dann habe ich immer, immer ein Gefühl von Ungenügen. Nie finde ich das richtige Wort, immer klingt es zu schal und zu allgemein. Ich glaube, darum suche ich es erst gar nicht. Jeder spricht für sich und hofft, verstanden zu werden. Manchmal gelingt es, dass ein Gedanke ohne Verluste aus meinem Hirn in ein anderes gelangt, und ebenso in die andere Richtung. Ich glaube, wir müssen alle Wege nutzen, alle Kanäle, alle Sprachen, alles, was uns zur Verfügung steht. Wir sollten uns die Videos zusammen ansehen.