Stift und Papier zugleich – Gebärdensprachkunst als dreidimensionale Literatur



Zur Übersetzung von Julia Hrochs Gebärdensprachpoesie Identity

Schrift Essay von Tim Holland

Es ist ein winziger Moment. Ein Blinzeln. Nach einer Minute und sieben Sekunden des Videos bemerke ich ihn. Julia Hroch macht einen Schritt schräg nach rechts vorne, sie zieht die linke Schulter hoch, das Kinn senkt sich zur Schulter, der Mund ist schräg gezogen wie der Backslash eines unglücklichen Smileys. Dann folgt der Oberkörper der Beinbewegung, dem Publikum wird der Rücken zugedreht. Drei Schritte in die Tiefe der Bühne. Tina Ohad steht nun vorn und wird das gebärden, was in meiner Übersetzung eine eingerückte Strophe sein wird, der Bericht von einem, der gerade in den Club kommt: küsschen hier, küsschen da. Julia Hroch steht im Hintergrund, die Beine so breit wie die Schultern aufgestellt, den Rücken durchgestreckt und den Kopf leicht gesenkt. Im Video sind zwei geballte Fäuste rechts neben ihr im Hintergrund zu sehen.
Das Video stammt von einem Auftritt beim Gebärdensprachfestival Goldene Hand 2002 in Berlin. Julia Hroch und Tina Ohad belegten mit Identity den zweiten Platz in der Kategorie Gebärdenchor. Man findet das Video mittlerweile mit vielen anderen online in der Bibliothek der Literaturinitiative handverlesen.
Ich erinnere mich noch gut wie ich meiner Mutter bei einem der obligatorischen Sonntagabendtelefonate  erzählte, dass ich gerade aus der Gebärdensprache übersetze. „Aber das kannst du doch gar nicht“, war ihre einfache Feststellung. Und so gerne ich meiner Mutter sonst widerspreche, da hatte sie recht. In den letzten Jahren habe ich vor allem aus dem Amerikanischen Englisch und auch mal aus dem Mittelhochdeutschen Minnesang übersetzt. Aber ich „spreche“ keine Gebärdensprache und ich hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt nicht mit Gebärdensprachkunst auseinandergesetzt, ja, die gesamte Gebärdensprachkultur habe ich bisher nicht gesehen. Ein blinder Fleck.

Jetzt muss ich links und rechts schauen, während mit den Händen um mich herum „gesprochen“ wird. Im Stuhlkreis bei den Meetings, beim Rauchen auf dem Hof und immer wieder auf der Bühne. Meine Augen sind schlichtweg nicht geschult genug, um alles zu erfassen, meine Aufmerksamkeit viel zu zerstreut. Auf der Bühne sehe ich das erste Mal live, was Kenner*innen als body-turned-text1 beschreiben. Und erst nach und nach wird mir bewusst: Ich finde gerade ein Puzzleteil für mein ganz persönliches Verständnis von dem, was Literatur sein kann und ist. Visuelle, konkrete und orale Literaturen sind mir wohlbekannt. Vor diesem Hintergrund kommt jetzt die Gebärdensprachkunst hinzu, in der „the same hands, face, and whole body used for everyday eating, sneezing, and lifting are transformed into the kinetic shape and skin of the poem“2.

In lautsprachlicher Literatur ist der Körper oft genug fragmentiert: Hier die neckische Strähne, dort die wiegenden Hüften – der Körper ist ein schönes Bild, eine Metapher, ein begehrtes Ding. Für mich persönlich wird der menschliche Körper gerade im Gedicht nach wie vor viel zu selten ernst genommen. Was kann ein Körper – ein weiblicher, ein männlicher, ein irgendwie transformierter oder erweiterter, ein beschädigter –, welche Möglichkeiten und welches Eigenleben besitzt er? In der Gebärdensprachkunst schafft der ganze Körper einen Text. Es ist eine dreidimensionale Literatur, wobei der Körper von Autor*innen sozusagen gleichermaßen Stift und Papier darstellt.3 In meinem Hinterkopf ploppt die Frage auf: Wie funktioniert das da mit dem von Roland Barthes proklamierten Tod des Autors? Vielleicht ist es eher so, dass die Autor*in selbst zum Palimpsest, zu einer immer wieder neu beschriebenen Seite, wird. Ich stelle es mir so vor: Freude, Schmerzen, Erfahrungen, die sich in den Körper eingeschrieben haben, überschreibt die Gebärde und schreibt sie gleichermaßen aus dem Körper heraus. Oder ist es genau umgekehrt und die Richtung der Gebärde geht in den Körper hinein? Geschieht beides gleichzeitig? Und was wäre, wenn ich dieselbe Gebärdensprachpoesie nicht von zwei jungen Frauen, sondern von einem alten Mann gebärdet gesehen hätte?  
So einfach ist das mit dem neuen Puzzleteil also doch nicht. Es ist ein souveränes Stück, das sich nicht einfach so hinzufügen lässt, sondern auch Bedingungen stellt und Fragen an die bisherigen Teile aufwirft. Nebenbei bemerkt: Das große Puzzle ist an sich ein löchriges Ding. 
Der Text wird also verkörpert. Das Erzählte wird damit sowohl konkret wie auch visuell und sprachlich durch die Gebärde bestimmt. Im Gegensatz dazu scheint das im besten Sinne konventionelle lautsprachliche Gedicht, das oben links beginnt und im harten Zeilenbruch rechts flattert, flach. In seiner Beschränktheit, nur zu beschreiben und nachzuerzählen, scheint es flach und gleichzeitig sehr voraussetzungsvoll, da es ganz darauf vertraut, dass dieses Ding, das ich im Studium als Mimesis kennengelernt habe, doch wohl funktionieren sollte.
T. S. Eliot sagt: „genuine poetry can communicate before it is understood“4, und beschrieb damit seine Leküreerfahrung von Dantes Inferno trotz anfänglich fehlendem Sprachvermögen. Und auch Walter Benjamin fragt in seinem Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers von 1923 ganz süffisant: „Was 'sagt' denn eine Dichtung? Was teilt sie mit? Sehr wenig dem, der sie versteht.“5 Beide scheinen da in dieselbe Kerbe zu schlagen, indem sie nach einem intelligiblen Wissens- und Verstehensbegriff fragen und ihn für die Gedichtlektüre als nachgeordnet einschätzen.

Beim ersten Sehen von Identity von Julia Hroch „verstand“ ich nicht und wurde gleichzeitig unerwartet irgendwo tiefer getroffen. Es ist eine bestimmte Haltung von Julia, die mich „anspricht“. In lautsprachlichen Gedichten würden wir das, was uns unvorbereitet und noch nicht eingeordnet trifft, am ehesten als Sound bezeichnen. Man könnte physiologisch wohl tatsächlich sagen, dass die Schallwellen uns als erstes treffen, bevor wir beginnen, das Gesprochene zu decodieren und zu verstehen. Beim sogenannten Weltklimagipfel der Poesie im Rahmen des Poesiefestivals in Berlin, bei dem ich 2018 die grönländische Dichterin Jessie Kleemann erstmals hörte, die in ihrer Sprache performte, machte ich zuletzt so eine Erfahrung. Ich stelle mir vor, dass es bei der Gebärdensprachkunst die Haltung ist, die man von Weitem sehen kann und die kommuniziert, bevor die einzelnen Gebärden verstanden werden. Wobei, wenn ich Haltung sage, hier sowohl die konkrete Körperhaltung gemeint ist, als auch das, was man vielleicht besser als Ausdruck beschreiben könnte. In der eingangs beschriebenen Sequenz sehe ich bei Julia Genervtheit, Trotz, vielleicht Wut, Angrifflust, die nicht blind ist. Es ist diese Haltung, die ich zu bemerken meine, die für mich bei der Übersetzung leitend ist.

Das Licht geht an. Zwei Frauen stehen Schulter an Schulter, dem Publikum zugewandt auf der Bühne. Vor den Körpern werden die Arme kraftvoll von oben nach unten geworfen. Ich übersetze:

 

es pisst

und pisst

und pisst

 

Das sind die ersten Zeilen des Gedichts. Ich ziehe ein sprachliches Register.

 

da hinten steht ein verschissener regenbogen.

der fickt mich.

 

Das ist die Setzung des Sounds, der Haltung, des Ausdrucks, die aus meinem Übersetzungsprozess hervorgegangen sind. Als ich meiner Mutter Monate nach dem Workshop ein Gedichtplakat mit dem von mir übersetzten Gedicht in die Hand drücke, schüttelt sie nur den Kopf: „Muss das denn Fäkalsprache sein?“ Man darf ihr das nicht übel nehmen, sie war 40 Jahre engagierte Deutschlehrerin und setzte sich vor allem dafür ein, dass die Kinder und Jugendlichen in ihrem Unterricht neben den Sprachen, die sie auf dem Pausenhof sprachen, noch die deutsche Hochsprache lernten. Doch um meiner Mutter zu antworten: „Ja, das muss!“. Julia Hroch hat mir erzählt, dass es ein empörtes Gedicht ist, von jemandem, der sich auflehnt, der mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden ist. Wer sich auflehnt, will gesehen werden: Schwungvoll sind die Gebärden, die den Regen andeuten. In meiner lautsprachlichen Übersetzung wird der Ausdruck entsprechend kräftig: es pisst. Der Regen ist für mich dabei sinnbildlich mit all den Anwürfen, die täglich auf die Erzählenden einprasseln. Dass dieses Aufbegehren nicht von der Schönheit eines Regenbogens und eines Sonnenuntergangs entkräftet werden kann, scheint mir nur die Glaubwürdigkeit des Anliegens zu untermauern.

Schon bei den wenigen übersetzten Gebärden merke ich, wie ich den fremden Text zu meinem eigenen mache. Das ist natürlich ein sehr streitbares Verfahren. Aber ich denke mir das so: Die Autorin Julia Hroch hat mir ihr Werk anvertraut und ich als übersetzender Autor habe die Verantwortung, es bestmöglich in meiner Sprache zu repräsentieren. Das Prinzip der Wirkungsäquivalenz: Ein geiles Gedicht sollte in jeder Sprache ein geiles Gedicht sein. Dabei kann man manchmal ganz nah am Werk bleiben und manchmal muss man sich zwei Schritte davon entfernen. Um Übersetzen zu können, muss ich nachfühlen können, was verhandelt wird. Vielleicht ist das sogar die Grundvoraussetzung, um übersetzen zu können. Dass wir uns alle gar nicht so fremd sind, in den Worten Benjamins: „Jenes gedachte, innerste Verhältnis der Sprachen ist aber das einer eigentümlichen Konvergenz. Es besteht darin, dass die Sprachen einander nicht fremd, sondern a priori und von allen historischen Beziehungen abgesehen einander in dem verwandt sind, was sie sagen wollen.“6 Gleichwohl gibt es Erfahrungen, die wir nicht teilen, persönlicher und struktureller Art, auch Benachteiligungen, die bestimmte Gruppen erfahren. In Bezug auf die Hörenden- und Taubenkultur gibt es eine klare Geschichte von Dominanz, Ungleichheit und Unterdrückung. Wie ist damit in einer künstlerischen Übersetzung umzugehen? 
Ich weiß nicht, ob ich höre nicht, also riss ich mir den arsch auf zu einer jener „Regionen der Unübersetzbarkeit“ in einem Text gehören, von denen Ricour in Vom Übersetzen spricht.7 Ich weiß nur, dass mich das, was ich dahinter vermute, sehr berührt. Autorin, gebärdensprachlicher Dolmetscher, Gebärdensprachübersetzerin und ich: Gemeinsam stellen wir Gebärde für Gebärde eine Art Interlinearübersetzung her. Dabei fällt mir immer wieder auf, wie viele Worte ich für eine einzelne Gebärde brauche, wie viel feiner die gebärdeten Akzente – die Handhaltung, das Mundbild – sind, die ich buchstäblich einzufangen versuche. Für mich ist die knappe Form das stärkste, was ich dem angedeuteten Schicksal aus Überkompensation, die darauffolgende Ausgrenzung durch die Kolleg*innen und die Spirale, die in Gang gesetzt wird, mitgeben kann. Was ist mehr zu sagen?

Julia Hrochs und Tina Ohads Performance erzählt, wie die worte der anderen, wie das, was andere über [uns] denken und das, was die anderen in [uns] sehen, unsere Gefühle, unsere Gedanken und unser Handeln bestimmen. Die drei unabhängigen Erzählstränge münden jeweils in einen mantraartigen Refrain und mahnen: ist das den kopf oben halten? ich wollte doch nicht kneifen.  Quasi als Strophen habe ich die Storys nur durch Einrückungen abgesetzt. Die gemeinsam performten Textteile erstrecken sich über die gesamte Breite des Satzspiegels. Wie kann gesprochener Text auf der Buchseite performen? Die „Poesie der Fläche“8 scheint mir noch lange nicht ausgereizt. Die Schwierigkeit der adäquaten Darstellung auf dem Papier teilt sich die übersetzte Gebärdensprachkunst ironischerweise mit oralen Literaturformen. Und an die muss ich auch beim Übersetzen denken, denn es gibt einen nicht hörbaren, aber sichtbaren Beat in den Gebärden, einen Rhythmus im Körper, auch wenn er wechselt. Dieser Eindruck wird durch die synchron ausgeführten Parts noch verstärkt. Assoziationen zu HipHop tun sich auf, zum emanzipativen Sprechakt, bei dem Einzelne sich zu einer Mehrheitsgesellschaft positionieren, aufbegehren, ihre Rechte einklagen – und sich natürlich auch selbst stark reden. Kate Tempests gesellschaftskritische Performances bewegen sich beispielsweise genau auf dieser Wellenlänge. In den kurzen Zeilen, die über Reime und Assonanzen miteinander verbunden sind, habe ich versucht, Haltung und Rhythmus einzufangen. Aber auch die Gebärdensprache selbst kennt Reime. So wird dieselbe Gebärde modifiziert an unterschiedlichen Körperstellen ausgeführt. Gegen Ende des Poems werden all die Anwürfe noch einmal in konzentrierter Weise in einem gereimten Part wiederholt. Im Lautsprachlichen habe ich diese Beurteilungen, die darin liegende Aggression, die die Erzählenden getroffen hat, durch einen vulgären Sprachregister wiedergegeben.

Julia Hroch und Tina Ohad stehen nebeneinander auf der Bühne. Synchron stoßen sie die Hände hart nach rechts oben, wehren mit den Handflächen ab, was von dort kommt, die anklagende Mehrheitsgesellschaft, die immer wieder versucht, Einzelne in ihre Konventionen zu zwingen. Ich übersetze das, was darauf folgt:

 

ich bin ok, so wie ich bin.

      was die andern denken, kann ich mir schenken.

 

ich bin die heftigste blume am strauch

  und nice schmetterlinge landen jetzt auch.

 

 

Fußnoten

1 H. Dirken L. Bauman, Jennifer L. Nelson, Heidi M. Rose: Signing the Body Poetic, Berkley 2006, S. 1

Ebenda, S. 2

Ebenda, S. 2: („writing the body“).

T.S. Eliot: The Poems, Cambridge 1988, S.2

Walter Benjamin: Illuminationen, Frankfurt am Main 1977, S. 50

Walter Benjamin: Illuminationen, Frankfurt am Main 1977, S. 53 

Paul Ricour: Vom Übersetzen, Berlin 2016, S. 9

8 Franz Mon, Frankfurt am Main 2016, S. 221