Wie können Textkörper auf dem Papier performen?



Kinga Tóth und Tim Holland haben beide die Gebärdensprachpoesie von Rafael-Evitan Grombelka übersetzt - einzeln und gemeinsam. Sie diskutieren ihre Fragen und Erfahrungen.

Schrift Gespräch von Kinga Tóth und Tim Holland

Mit den Fingern fängt es an

Tim Holland: Ich habe mir gerade noch mal Rafaels Poesien angeschaut. Was mir immer wieder bei der Traumfahrt auffällt, ist wie gut sie gebaut ist. Das Aufziehen und Reingleiten in den Traum, dann die Personifizierung und dann flaut es wieder ab. Es beginnt mit diesen ganz kleinen, krabbeligen Bewegungen der Finger, die größer und energetischer werden, und gleichzeitig schaut er uns direkt in die Augen. Das packt mich. 

Kinga Tóth: Mit den Fingern fängt es an und für mich war es schon eindeutig das Nervensystem, genauso treiben (laufen, “spread”) die Informationen durch die Nerven weiter. Man kann solche Darstellungen oder biologische Beispiele finden, wo es genauso modelliert ist, aber dann kommt die Achterbahn und dann weißt du schon, dass es personifizierend wirken kann, dass es mit den Schlafphasen (tiefer tauchen, tiefer gehen) in Verbindung stehen kann - und plötzlich, ganz wie in den Filmen: short cut! und wir sind mittendrin! Rafael lässt uns fühlen, wie es ist, mit seinem Körper geht er ganz in diese Resonierung rein und wieder short cut! und schon sind wir draußen. Das Einzige, was sich nicht ändert, ist der Augenkontakt. Hypnotisch ist das. Und obwohl er mit dem Körper alles erlebt, belebt, ist die Komposition, die dramaturgische Planung die ganze Zeit über präsent. Rafael hat die Komposition die ganze Zeit in der Hand, auch wenn er seinen Körper der Komposition als Medium gibt. 

 

Kann man das Werk von der Performer*in trennen?

Kinga: Ich denke, Rafael verkörperlicht selbst die Sprache - wenn ich es in einem Satz zusammenfassen sollte. Er ist die Sprache selbst, seine Funktion ist nicht nur, zu vermitteln oder durchzulassen, er schafft eine organische, absolut audiovisuelle und sich immer bewegende, entwickelnde Einheit. Bei unseren gemeinsamen Auftritten war es auch eine große Frage, ob man die Werke und die Poeten trennen könnte. Bei Rafael es besonders schwierig, glaube ich. Aber wie denkst du das?

Tim: Rafael hat ja einen besonders ausgeprägten Stil in seinen Gebärden. Die Gebärden scheinen mir stark akzentuiert und rhythmisiert, dann die “sprechenden” Augen. Und gleichzeitig ist es die Gebärdensprache, die ganze Performance, die ja so eine audiovisuelle Einheit darstellt. Und ich frage mich: Gilt alles was ich über Rafaels Poesie sagen kann, vielleicht nicht nur für ihn, sondern auch generell? Mein Vokabular und meine Fähigkeiten, Dinge wahrzunehmen und zu benennen sind da noch sehr begrenzt. Aber: Gerade Rafael bietet so viel Ausdruck an - wie du sagst, er "verkörperlicht selbst die Sprache“ - dass man fast dazu gezwungen ist, verschiedene Mittel und Übersetzungsstrategien auszuprobieren, um das Kunstwerk als Gesamtes fassen zu können.

Kinga: Ja stimmt, aber es sind auch seine persönliche Impulsivität und Dynamik, die seine Poesie stilistisch ausmachen. Also man könnte schon sagen, was an einer Performance 'rafaelisch' ist, genau! Zuerst war ich z.B. mit Sound ein bisschen unsicher: Ich dachte, uhh, das passt nicht, ist doch schräg oder einfach inadäquat und auch vielleicht grob. Aber dann haben wir, du und ich, gleich ein performatives Stück kreiert - weil das natürlich war! Es ist auch diese Denkweise, wenn man in ein 'special field' eintritt und Hypothesen hat, die gar nicht funktionieren. Aber ist doch schon irre: Gebärdenpoesie sounds!

Tim: Ja, ich war auch sehr überrascht, dass wir Holterdiepolter zu einem Lautpoem gekommen sind. Und bin jetzt noch froh, dass uns Rafael uns so vertraut. Wir sind ja in ein Medium gewechselt, auf dass er keinen Zugriff hat. Aber wahrscheinlich ist das Intuitive, das es eher über den Bauch und die Ohren, also sensorisch erfassbar ist, das, was mich schnell überzeugt hat. Das gilt für mich fürs Lautpoem wie für die Gebärdensprache. 

Kinga: Ja, Übersetzen ist eine Öffnung und eine Verbreitung unserer Sinne, Sinnesorgane, unserer Wahrnehmung - und da ist das Intuitive auch drin. Wie war es bei dir: Weißt du noch, welches Mittel du bei der Übersetzung am Anfang gleich benutzen wolltest?

 

Übersetzen fängt damit an, welche Fragen man stellt

Tim: Am Anfang war ich einfach aufgeschmissen. Ich wusste nicht, welche Mittel greifen, wie kann ich das Gesehene, das 3D-Stück, auf die 2D-Fläche des Papiers transferieren. Dann habe ich irgendwie versucht das große Ganze mal zu „verstehen“. Wobei der Verstehensbegriff ja auch schon so eine Sache ist. Wir haben ja vorher schon davon gesprochen, was sich intuitiv schon vermittelt und was wir nicht benennen können. Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir Rafael gelöchert haben? Ich meine, da fängt das Übersetzen schon an: bei den Fragen, die man stellt.

Kinga: Ja! Und wir beide haben komplett unterschiedliche Fragen gestellt, das fand ich auch super interessant! Deswegen mag ich auch, wenn wir unsere gemeinsamen Übersetzungen vortragen, weil - irgendwie da sehe ich Rafael auch da, in der Mitte unseres Übersetzungs-treffens. Er ist doch das Zentrum und die Geschichte, die Kunstwerke passieren mit ihm, um ihn, besser gesagt: Er selbst mit seiner Präsenz ist auch (s)ein Werk.

Tim: Und bei den einzelnen Übersetzungen sind die Unterschiede natürlich auch gerade durch uns Fragen entstanden, weil wir jeweils auf unsere Fragen sehr andere Bilder von Rafael geliefert bekommen haben. Wir haben uns ja schon semantisch entfernt – wobei ich auch glaube, dass es wie bei schriftsprachlichen Gedichten ist, dass es immer Interpretationsspielraum gibt. Wir übersetzen Kunstwerke in Kunstwerke, es ging ja immer um Wirkungsäquivalenz. Und ich meine mich zu erinnern, dass Rafael auch sagte, dass die Gebärdenpoesie sich durchaus von der Gebärdensprache abhebt. Also emanzipiert, vielleicht?

 

Die Neuschaffung von Körpern

Tim: Ja, das ist ja wieder meine Frage von vorher: wie kann man eine Performance, einen lebendigen Körper im Raum verschriftlichen? Wie kann Sprache auf dem Papier performen? Bei den ersten Übersetzungen, die wir gemacht haben, haben die ja auch erstmal den ganzen Raum des Papiers vermessen, um Dynamiken und auch formell mehr anzuzeigen.

Kinga: Ja doch: Es ist wirklich wie eine Neuschaffung von Körpern (materiell auch!).

Tim: Du meinst bei der Übersetzung schaffen wir wieder neue Körper? Sollten wir neue Körper schaffen?

Kinga: Ich denke, ja! Hast du mal an Mimikry/Mimesis gedacht? Aber Mimesis geht auch nicht richtig. Wir müssen das mit unseren Mitteln versuchen, die Diversität unserer „Bausteine" sind auch gut und wichtig.

 

Lebendige Körper in den Raum schreiben 

Kinga: Genau, living text bodies! Das ist so witzig, in paar Essays habe ich schon darüber gesprochen/geschrieben, dass es immer mein Ziel war, soetwas zu schaffen, und dann treffe ich diese unglaublichen Künstler und siehe da! Die ganze Zeit habe ich darüber geredet - und es existiert längst und heißt Gebärdenpoesie! Aber genau, ich denke, es ist auf jedem Fall einen Versuch wert, Textkörper (wortwörtlich) zu schaffen.

Tim: Also mal ganz banal: im Gegensatz zu Rafael haben wir die Stimme als Ausdrucksmöglichkeit. Die kann, vielleicht ähnlich wie Gebärden, sehr gut kleine Akzente setzen, laut, leise, hoch, tief, schnell, langsam, aus dem Bauch heraus - da gibt es eine unheimliche Variabilität und einen Fächer von Möglichkeiten, Text auszugestalten. Steile These: wenn unsere Gestaltungsmöglichkeiten auf dem Papier nicht ausreichen, das Körperliche dort abhanden kommt – vielleicht sollte Gebärdensprachpoesie in Übersetzung gar nicht auf dem Papier stattfinden sondern nur gesprochen?

Kinga: Genau! Das wäre auch eine sehr interessante Möglichkeit. Und in Klammern: Wir machen das schon, halb bewusst. Oral history and body history fielen mir ein, eine Art von storytelling mit dem Körper.

 

Brauchen wir dann doch die Stimme?

Tim: Das passt für mich: living text bodies sprechen auf jeden Fall. Dann geht es nicht nur darum, wie die Stimme gehört/verstanden wird, sondern eben auch, wie der Körper "gelesen" wird. Also, wer spricht da, aus welcher Haltung?

Kinga: Und mit welchen Signalsystem machen wir das? Das Schriftliche ist auch wichtig (sage ich, die normalerweise ziemlich gegen zweidimensionale Texte ist), das ist doch auch ein teil des Gesamtcodesystems.

Tim: 2D-Text ist eben wichtig für die hörende Community, das ist die Zielsprache bei der Übersetzung.

Kinga: Jaja, voll! Aber schon beim Lesen sind Zeichen und Sound da, obwohl Lesen still passiert. Also ist 2D-Text auch fast nie nur 2D.

 

Trugschluss: dass gehörlose Poet*innen meine Texte lesen können

Tim: …bei der hörenden Community wahrscheinlich schon. Das war ja mein großer Trugschluss: dass gehörlose Poet*innen ja durchaus meine Texte lesen können würden. Und klar, technisch konnte Rafael das, aber es sagt ihm weniger, er hört die Assonanzen und den Rhythmus ja nicht, weil unsere Schriftsprache ja in starker Wechselwirksamkeit mit der Lautsprache steht, auf die er keinen Zugriff hat.

Kinga: Ja, aber er nimmt es doch auf, nur mit einem anderen Codesystem.

Tim: Wie meinst du das? Das andere Codesystem?

Kinga: Also das Zeichensystem, die Visualität, auch die Buchstaben, die dann bei der Bedeutung mitwirken und so ganz andere Bildassoziationen oder Rückkopplungen hervorgerufen werden - das wissen wir auch noch nicht genau, vielleicht funktioniert das beim 'Aufnehmen' wie Synästhesie?

Tim: Ah, du meinst, dass bereits die Buchstaben ganz anders gelesen werden. Vielleicht auch mehr auf den Graphem hin, denn auf den Phonem. Das ist spannend, stimmt.

 

Ohne Schwung geht es nicht

Kinga: Wichtig ist jedenfalls, dass wir drei in einem Schwung sind, und das (hoffentlich) auch gut weitergeben können.

Tim: Das ist die Voraussetzung. Ein gedicht, das ich nicht mag, dessen Inhalt mir nichts sagt oder mit dessen Erzählung ich mich nicht ansatzweise identifizieren kann, kann ich nicht so gut übersetzen.

Kinga: Wir sind auch noch immer Menschen, das ist ein gutes Beispiel für die subjektiven Faktoren, die auch eine sehr große Rolle bei der Interpretation und Übersetzung spielen. Die dramaturgischen Mittel, mit denen Rafael arbeitet, faszinieren mich. Wir haben öfters darüber geredet, dass er wie ein Komponist arbeitet, aber neben dieser „Musikalität" muss man wirklich über Szenographie, szenische Darstellung und Dramaturgie sprechen. Das ist auch so eine Sache: wie du die Signale, also z.B. wie du einen "Schwung" interpretierst?

Tim: Zumal der "Schwung" ja bereits durch die Dolmetscher*innen mitinterpretiert wird.

Kinga: Oder eine Körperhaltung, eine Dynamik — so viele Neologismen schaffen die Gebärdenpoet*innen auch mit der Körpersprache. Da musste man auch einfach schriftliche Neologismen dazu schaffen, und trotzdem war das irgendwie doch noch nicht genug. Ich denke, die, die Gebärdensprache übersetzen, müssen auch performen, anders geht es einfach nicht.